Sensationelle Funde beweisen: Neandertaler lebten schon vor 130.000 Jahren in der Niederlausitz – weitaus früher als bislang angenommen. Die bisher ältesten Fundstücke sind etwa 40.000 Jahre alt.
Ein kleiner Stein, der in jede Hand passt. Orange-braun und glatt wie Marmor. Nichts Besonderes auf den ersten Blick. Doch als Roberto Piskorski ihn sich näher anschaute, stellte er fest, dass der Stein offenbar bearbeitet ist. „Ich mache den Job seit 20 Jahren und wusste sofort, dass das ein ganz besonderer Fund ist“, sagt der Grabungstechniker des Landesamt für Denkmalpflege.
Wie sich später herausstellen sollte, handelt es sich bei der Entdeckung am Rande des Braunkohletagebaus Jänschwalde bei Cottbus im Juli um einen sogenannten Feuersteinkern. Neandertaler stellten einst aus der erdfrischen Feuersteinknolle einen Kern her, der schärfer schneidet als jedes Messer. Damit erschufen sie Waffen und Werkzeuge.
Der 52-Jährige hielt also den Beweis in Händen, dass in der Niederlausitz schon vor 130.000 Jahren Neandertaler lebten – weitaus früher als bislang angenommen. Die bisher ältesten Fundstücke aus Brandenburg sind etwa 40.000 Jahre alt.
Plötzlich tut sich ein ganzes Archiv auf
Knapp drei Monate sind seit dem spektakulären Fund in der Nähe der Gemeinde Heinersbrück (Spree-Neiße) vergangen. Neben dem Feuerstein entdeckten die Archäologen in etwa 20 Meter Tiefe weitere Zeugnisse aus der fernen Zeit. Dort unten liegt die Erdschicht aus dem Ende der vorletzten Eiszeit, der sogenannten Saale-Kaltzeit. Nur wenige Meter vom Feuerstein-Fund entfernt holten sie Knochen von Wildpferden aus dem Boden.
Sie fanden auch Knochen vom Wolf, vom Elch und dem mittlerweile ausgestorbenen Bison. Und entdeckten ein Männchen der europäischen Sumpfschildkröte. Bald konnten sie sich ein Bild von der Lebensumwelt des Neandertalers machen. Denn auch fossile Reste von Sanddorn, Reste von Sträuchern, Weiden, Birken, Gräsern, Kräutern sowie Sumpf- und Wasserpflanzen kamen bei den Grabungen zutage. Ein ganzes Archiv tat sich auf.
Zufällig im Sieb gelandet
Am Donnerstag präsentierten Archäologen des Landesamtes sowie Experten der Freien Universität Berlin mit dem Energiekonzern Vattenfall und Kulturministerin Sabine Kunst (parteilos) die Stücke. Zu ihnen gehört auch ein Feuerstein-Schaber, mit dem die Neandertaler vermutlich Fleischreste vom Fell erbeuteter Tiere abgeschabt haben. Er war zufällig in einem Sieb gelandet.
Am Rande der Grabungsstätte lag die jahrtausendealte Vergangenheit buchstäblich auf dem Tisch: ein Unterkiefer des Wolfs mitsamt der Zähne, eine Geweihschaufel eines Elchs und das Schulterblatt eines Pferdes. Die Fundstücke sehen aus, als wären sie aus Holz, und sie fühlten sich auch so an. Für Kulturministerin Sabine Kunst steht fest: „Wir müssen die Geschichte der Besiedelung Brandenburgs jetzt neu schreiben.“
Landesarchäologe Franz Schopper zeigte sich beeindruckt: „Die schon bei früheren Grabungen im Tagebau Jänschwalde entdeckten Feuersteinwaffen der Rentierjäger vom Ende der letzten Eiszeit haben das unvorstellbar hohe Alter von 13.000 Jahren. Die nun entdeckten ersten Spuren der Neandertaler in der vorletzten Eiszeit sind zehnmal so alt.“ Das Landesamt führe jedes Jahr im Braunkohlerevier 30 bis 40 größere Grabungen durch, dazu Probegrabungen und Einzeldokumentationen. „Ein solcher Fund ist sensationell“, sagte Schopper. „Er ist wie ein Sechser im Lotto.“ Dass im Grabungsgebiet noch ein ganzes Neandertaler-Skelett gefunden werde, sei hingegen wenig wahrscheinlich. „Man soll die Hoffnung aber natürlich nicht aufgeben“, fügte er hinzu.
Früher wuchsen hier Sanddorn, Weiden und Birken
Dass die Fundstelle noch erhalten ist, ist den Experten zufolge einer Abfolge von geologischen Vorgängen zu verdanken. Mit der beginnenden Erwärmung der Atmosphäre zum Ende der Saale-Eiszeit vor etwa 130.000 Jahren tauten die mächtigen, im Untergrund erhaltenen Eisreste ab. Dadurch entstand eine gewaltige Senke. Es bildete sich ein See.
Er blieb auch noch während des auf die Saale-Eiszeit folgenden Zeitabschnitts, der Eem-Warmzeit. In der darauffolgenden Weichsel-Eiszeit wurde das Gebiet abgetragen – bis auf die tiefsten Beckenbereiche des ehemaligen Sees. So blieb die darunter liegende Fundschicht verschont und wurde in den darauffolgenden Jahrtausenden von jüngeren Ablagerungen überdeckt.
Der Fundplatz lag vor 130.000 Jahren in einer flachen, durch seichte Gewässer unterbrochenen Niederung mit einer Waldtundren-Vegetation. Damals wuchsen dort Sanddorn, Weiden und Birken. Die Paläontologin Annette Kossler von der FU- Berlin sagte: „Die zahlreichen Fossilfunde von Flora und Fauna belegen, dass die Lebensbedingungen mit den heutigen Bedingungen in kaltgemässigten Klimazonen wie im nördlichen Skandinavien vergleichbar waren.“
Seit 2010 laufen archäologische Grabungen
Hartmuth Zeiß, der Vorstandschef der Braunkohlesparte bei Vattenfall, verwies auf die lange Tradition bei der wissenschaftlichen Erforschung von Vorkommen. Schon 1885 seien am Rande des Tagebaus erste Wirbeltierknochen gefunden worden. „1903 wurde hier auch das erste Mammut-Skelett in Deutschland entdeckt.“
Seit 2010 laufen die derzeitigen archäologischen Grabungen am Rande des Tagebaus. Vattenfall finanziere sie mit acht Millionen Euro. Die neuesten Fundstücke werden bald im Archäologischen Landesmuseum in Brandenburg/ Havel zu sehen sein.