Donnerndes Dröhnen schallt über den Simsonplatz in Leipzigs Innenstadt. Begleitet von Protesten von dreihundert Flughafenanwohnern hat am Dienstag am Bundesverwaltungsgericht die Verhandlung über ein Nachtflugverbot für den neuen Berliner Flughafen BER begonnen. Um die Belastung deutlich zu machen, ließen die Demonstranten Düsengeräusche auf das altehrwürdige Gerichtsgebäude los. Aber bei allem Krach und einem sehr ins Detail gehenden Gutachterstreit wurde zum ersten Verhandlungstag kaum deutlich, wie das Gericht entscheiden wird, wenn im Oktober das Urteil verkündet wird.
Der langjährige Wortführer der Flughafengegner, der frühre CDU-Bundestagsabgeordnete Ferdi Breitbach, stimmte die Protestierer mit einer kämpferischen Rede ein, ehe sie an einen langen Flatterband das Gerichtsgebäude mit einer Menschenkette umstellten. „Es ist unmenschlich, die Schlafenszeit auf eine Zeit von null bis fünf Uhr zu beschränken“, rief Breitbach.
Denn es geht um viel in Leipzig bei der zweitägigen Verhandlung vor Deutschlands höchstem Verwaltungsgericht:
Anwohner und Anliegergemeinden wollen nicht hinnehmen, dass das Brandenburger Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft den Airlines erlaubt hat, ab dem Eröffnungstermin am 2. Juni 2012 77 Mal in einer Durchschnittsnacht auch zwischen 5 und 6 Uhr morgens und zwischen 22 und 24 Uhr abends in BER zu starten oder zu landen. In einer Spitzennacht sollen 103 solcher Flüge zulässig sein.
Aus Sicht von Flughafenchef Rainer Schwarz ist es für die Entwicklung des neuen Airports aber unabdingbar, auch in der Nacht fliegen zu können. Ohne diesen Spielraum würden Billigflieger abwandern und Interkontinentalverbindungen gar nicht erst geschaffen. Das würde den Aufbau von 18.000 Arbeitsplätzen verhindern. Die angestrebte Funktion als drittes Drehkreuz in Deutschland wäre gefährdet, wenn Berlin als einziger deutscher Flughafen zwischen 22 und 6 Uhr geschlossen bliebe. „Das wäre für die Hauptstadt der drittgrößten Industrienation der Welt unwürdig“, sagte Schwarz.
Die Nachtflug-Gegner wollen genau das: Es gebe keinen Grund, Familien zu nachtschlafender Zeit in ein Flugzeug zu stopfen, sagte Breitbach unter dem Applaus der Zuhörer. Auch Fracht könne am Tage transportiert werden. „Es geht doch nur darum, dass die Flugzeuge, die angeschafft werden, wirtschaftlich betrieben werden können, zu Lasten der Gesundheit“, sagte Breitbach. Vielleicht höre der eine oder andere Richter diese Worte und gehe in sich, so der Flughafengegner.
Das hoffen auch Gisela und Wolfgang Hinze aus Berlin-Köpenick, die am Morgen mit einem von der Bürgerinitiative organisierten Bus aus Berlin gekommen sind. „Wir wollen, dass diese furchtbaren Geräusche wegbleiben“, sagt der Ruheständler gegen den Krach aus dem Lautsprecher auf dem Platz. Die Hinzes kennen Fluglärm. Früher haben sie in Reinickendorf gewohnt, wo die Flieger nach Tegel runtergingen. Nun holt sie der Krach in Köpenick wieder ein. „Mit dem Flughafenbau haben die Politiker bereits Fakten geschaffen“, klagt Gisela Hinze, „deshalb müssen wir wenigstens die Flugrouten ändern und das Nachtflugverbot durchsetzen.“
Ein paar Meter weiter stehen Elke und Olaf Schilling in der Menschenkette. Ursprünglich kommen sie aus Berlin, aber vor sechs Jahren haben sie sich in Rangsdorf ein Haus gekauft und saniert. „Damit die Kinder in Ruhe und im Grünen aufwachsen“, sagt Elke Schilling, die Zahnprophylaxe für Kinder in Kitas macht. Sie hält das Argument, ein Nachtflugverbot werde Arbeitsplätze vernichten, für vorgeschoben. „Berlin braucht einen Regionalflughafen“, sagt ihr Mann, der beruflich hin und wieder fliegt, „aber einen Großflughafen hätte man anderswo bauen müssen.“
Anwohner fühlen sich getäuscht
Die Schillings fühlen sich getäuscht. Es habe keine Informationen darüber gegeben, dass ihr Wohnort auch vom Lärm betroffen sein werde, sagt Olaf Schilling. „Die haben falsche Lärmkarten ausgegeben.“ Jetzt stehen sie vor dem Gericht, um diejenigen zu unterstützen, die geklagt haben. Ihnen selber sei dieses Recht durch die „Lügen“ der Politiker und der Flughafenbetreiber vorenthalten worden.
Der Vertreter des beklagten Landes Brandenburg, Infrastruktur-Staatssekretär Rainer Bretschneider sagte, er könne die Proteste verstehen. „Aber eine Industriegesellschaft wie Deutschland kommt ohne Lärm und Belästigungen nicht aus“, sagte der Stellvertreter des SPD-Ministers Jörg Vogelsänger. Aber seine Behörde müsse abwägen, was rechtlich genehmigt werden kann. Das Gericht habe sich aber bereits bei der Genehmigung des Flughafenstandortes im stadtnahen Schönefeld berücksichtigt. Deshalb sei die Kernnacht zwischen null und fünf Uhr am BER anders als bisher in Schönefeld tabu.
Der Vorsitzende Richter Rüdiger Rubel sagte zu Beginn des Verfahrens, die Frage der Nachtflüge sei eine „Abwägungsentscheidung“. Das Gericht müsse nun klären, ob die Genehmigungsbehörde bei ihrer Abwägung die verschiedenen Aspekte richtig gewichtet habe.
Den Nachtflugbefürwortern dürften jedoch einige Aussagen des Vorsitzenden Mut machen. Schon in der Genehmigung des neuen Flughafens habe das Gericht einen „standortspezifischen Nachtflugbedarf festgestellt“, sagte Rubel: „Ein Hauptstadtflughafen muss ein sich vom Flughafen Paderborn unterscheidendes Angebot haben.“ Rubel äußerte auch Verständnis dafür, dass der Flughafen Airlines Flüge in den Randzeiten anbieten müsse, weil diese sonst „weg“ gingen. Der Vorsitzende formulierte die Überlegung, ob die Funktionsbeschreibung es Flughafens den Wunsch beinhalte, „die Hauptstadt nicht um 22 oder 23 Uhr abzuhängen und Berlin schlechter zu stellen als Frankfurt oder München.“
Das Publikum buhte. Kläger Anwalt Michael Hofmann sagte, der Flughafen könne auch bei einem Nachtflugverbot seine Funktion wahrnehmen, Berlin ans internationale Verkehrsnetz anzuschließen. Für die Airlines sei der Markt zu wichtig.
Applaus im Gerichtssaal war verboten
Am ersten Verhandlungstag versuchten die Anwälte der Privatkläger und der Gemeinden, die Glaubwürdigkeit der Verkehrsprognosen für den neuen Flughafen in Zweifel zu ziehen, den das Büro Intraplan für die Genehmigungsbehörde erstellt hat. Die Aussagen für den Nachtflug folge dem Masterplan für die Entwicklung des Flugverkehrs insgesamt, die ebenfalls von Intraplan stammt, sagte Kläger-Anwalt Michael Hofmann: „Das ist ein Papier, um den Flughafen-Ausbau in Deutschland zu rechtfertigen.“ Die der Studie zugrunde liegenden Daten seien nicht öffentlich zugänglich, niemand könne sie frei überprüfen.
Sein Kollege Frank Boermann sagte, es sei ja klar, dass ein Nachtflugbedarf herauskomme, wenn man von einem Flughafensystem wie dem Berliner ausgehe, wo es eben in Schönefeld Nachtflüge gebe. Die Flughafengegner im Saal applaudierten, obwohl der Vorsitzende das verboten hatte.
Markus Schubert von Intraplan wehrte sich gegen die Vorwürfe. Er habe die gängigen Verfahren angewandt, sagte der Gutachter, alle Prämissen seien von einem kompetenten Fachbeirat gebilligt worden. „Wir setzen uns in einem solchen Verfahren doch nicht alleine hin und füttern Daten in unseren Computer.“
Klaus-Peter Dolde, der das Land Brandenburg vertritt, räumte ein, dass es andere Prognosemethoden gäbe. Es gebe jedoch keinen Zweifel, dass die gewählte Methode plausibel sei. Jeder sei ein Scharlatan, der behaupte, er könne jede einzelne Flugbewegung für 2023 vorhersagen. Planziel des neuen Flughafens seien doch genau mehr Flugverbindungen, die an einem einzigen Flughafen gebündelt würden.
In einer zweiten Angriffsstrategie wollten die Kläger das Argument von Flughafen und Airlines zu Fall bringen, es gehe bei den Nachtflügen vor allem um die Möglichkeit, neue Interkontinentalverbindungen zu schaffen. Dabei beriefen sie sich auf ein Gutachten des Airport Research Centers (ARC) für die Flughafengesellschaft, das sie kurz vor der Verhandlung eingebracht hatten. Daraus ergebe sich, dass in der Nacht eben vor allem Billigflieger verkehren wollten. „Da bewegt sich vor allem Easyjet“, sagte Boermann, „aber es verkauft sich besser, von Interkontinentalflügen und einem Drehkreuz zu reden.“ Es gebe keinen plausiblen Grund dafür, warum Urlauber um 3.30 Uhr in der Nacht nach Antalya fliegen müssten. „Der Verkehr ergießt sch in die Randzeiten nur dann, wenn man es zulässt“, sagte der Anwalt.
Die Flughafengesellschaft sprach dem Tagesflugplan jede Relevanz für das Thema Nachtflüge ab. Dieser modellhafte Tagesflugplan für 2015 war entstanden, um in der Debatte um die Flugrouten den Bedarf nach parallelen Starts und Landungen auf den beiden Bahnen des BER nachzuweisen. Da gehe es um die Spitzenzeiten am Tage, nicht um die Nacht.
Die Richter zeigten sich ob des Gutachterstreites bisweilen leicht genervt. Man wolle auch mal seine Fragen stellen, schalt der Vorsitzende Rubel die Streitparteien: „Wir wollen alle ja noch irgendwann Weihnachtseinkäufe tätigen, insofern sollten wir es nicht übertreiben.“
Am Mittwoch geht es um die gesundheitlichen Folgen von Fluglärm. Dann steigen im prachtvollen großen Verhandlungssaal zu Leipzig andere Experten in die Bütt.