"Alexander ist künstlerisch begabt. Er zeichnet ganz toll“, schwärmt Cordula Wehlmann. „Ich hasse Kunst“, knurrt hingegen der gerade hoch Gelobte. Was sich anhört, wie ein gewöhnliches Wort-Geplänkel zwischen Mutter und Sohn, ist in diesem Fall eine ganz andere Konstellation.
Alexander ist Patient, er leidet an Muskeldystrophie, also nicht heilbaren Muskelschwund, und sitzt im Rollstuhl. Und Cordula Wehlmann ist nicht seine Mutter, sondern ehrenamtliche Familienbegleiterin. Sie ist für Alexander da, mindestens einmal die Woche, und begleitet den Jungen auf seinem letzten Lebensabschnitt. Denn Alexander wird an seiner genetisch bedingten, angeborenen Erkrankung, bei der ein wichtiges Protein zum Muskelerhalt nicht gebildet wird, über kurz oder lang sterben. Die Lebenserwartung reicht bei Muskeldystrophie gerade mal ins junge Erwachsenenalter. Mit dem Sterben so massiv konfrontiert wird Wehlmann nicht zum ersten Mal. Die hauptberufliche Diätassistentin und Diabetes-Beraterin hat auch schon Erfahrungen in der Hospiz-Hilfe, machte dafür bereits eine Ausbildung. Damals ging es allerdings um die Betreuung von Erwachsenen.
Stiftung bildet Familienbegleiter aus
Alexander aber ist gerade einmal 15. Kennengelernt hat Cordula Wehlmann den todkranken Jungen im Rollstuhl vor drei Jahren, nach einjähriger Ausbildung zum Familienbegleiter bei der Björn-Schulz-Stiftung. „Wir fanden schnell einen Draht zueinander. Es hat einfach gepasst“, beschreibt sie die erste Begegnung mit Alexander. Die Björn-Schulz-Stiftung hat jahrelange Erfahrung mit der Begleitung todkranker Kinder und Jugendlicher, betreibt in Berlin das speziell für junge Patienten ausgerichtete Hospiz „Sonnenhof“. In Frankfurt (Oder) unterhält die Stiftung schon seit 1998 eine Kontakt- und Beratungsstelle, seit vier Jahren gibt es das Angebot der Familienbegleiter. Im Aufbau befindet sich zudem ein Tageshospiz, das im September eröffnet werden soll.
Frau Wehlmann hatte in der Zeitung eine Annonce der Stiftung gelesen, die ehrenamtliche Familienbegleiter suchte. „Ich habe in meinem Leben bisher Glück gehabt – bin behütet aufgewachsen, 33 Jahre glücklich verheiratet, habe zwei gesunde, inzwischen längst erwachsene Kinder.“ Von diesem Glück habe sie anderen etwas abgeben wollen, „weil wir Menschen solidarischer miteinander umgehen sollten“. Ihre Mutter habe ihr dieses uneigennützige Verhalten quasi vorgelebt. „Ich bin ähnlich gestrickt, wie sie“, glaubt die gebürtige Frankfurterin.
Die einjährige Vorbereitung bei der Stiftung hat Wehlmann sehr geholfen, sagt sie, vor allem im Bereich der Kinderpsychologie und der eigenen Selbstreflexion. „Allerdings bringt das Leben selbst dann die Erfahrung – ist man eher Vertrauter des Patienten oder doch mehr eine Haushaltshilfe“, umreißt sie das Arbeitsspektrum. Deswegen lasse sich die Aufgabe eines Familienbegleiters gar nicht so genau definieren. Sie selbst hat mit Alexander trotz seiner starken körperlichen Beeinträchtigungen schon viel unternommen: gemeinsame Kinobesuche, Einkaufen oder vietnamesisch Essen gehen. Selbst bei Alexanders Jugendweihe war die Familienhelferin mit dabei, sie ist dem Jungen längst zur Freundin geworden.
Christine Lang – Alexanders Mutter – hatte zunächst Bedenken, als ihr die Kinderärztin ihres Sohnes von der Björn-Schulz-Stifung und von deren Familienbegleitung erzählte. „Da hatte ich automatisch das Jugendamt im Kopf – und die Leute wollte ich nicht“, erinnert sie sich.
Doch sie ließ sich eines Besseren belehren. Spätestens, als die eigentlich fremde Frau ihren Sohn nach einer Operation auf der Intensivstation der Berliner Charité besuchte. „Da war das Eis gebrochen“. Heute möchte die alleinerziehende Mutter zweier Kinder Frau Wehlmann nicht mehr missen. Weiß Christine Lang doch, dass sie den Familienbegleiter jeder Zeit anrufen kann, wenn sie Hilfe braucht.
Beispielsweise, wenn das Auto plötzlich streikt und sie ihren kranken Jungen nicht zu einer dringend notwendigen Behandlung fahren kann. Und auch dann, wenn sie Zeit für Alexanders kleine Schwester Jasmin haben will. Die Fünfjährige muss oft zurückstecken – ihr an den Rollstuhl gefesselter Bruder braucht eben mehr Aufmerksamkeit als sie.
Jetzt soll auch Jasmin einen Familienhelfer bekommen. „Ziel unserer Hilfe ist es, das Familiensystem zu stützen, damit es aufgrund der zusätzlichen seelischen und körperlichen Belastung nicht zerbricht“, sagt Stiftungsmitarbeiterin Claudia Wirtz. Für Christine Lang bedeutet das, auch ein wenig Zeit für sich zu haben, wenn sie beide Kinder umsorgt weiß. Denn ihr Alltag lässt dafür kaum Platz. „Entweder bin ich arbeiten oder ich schlafe“, sagt sie. Mehr will sich die 36-Jährige offenbar nicht gönnen. „Frau Lang macht einen verdammt harten Job. Davor habe ich Hochachtung und hoffe, sie tatsächlich etwas zu entlasten“, sagt die Helferin.
Ihrem Sohn jedenfalls, so hat Alexanders Mutter beobachtet, tue die Familienbegleiterin gut. „Ich will ihm das Leben so schön wie möglich machen – er hat ja nicht viel Zeit“, sagt sie. Der Junge hat zwar in der Schule und auch im Wohnhaus gleichaltrige Freunde. Aber eine erwachsene Vertraute ist schon etwas Besonderes. „Da macht er wenigstens keinen Blödsinn“, meint Frau Lang vielsagend. Dass ihr „Großer“ mit dem Rollstuhl umkippt, weil er beispielsweise mit seinen Freunden Fußball spielt, sei nicht nur einmal passiert. „Alexander plus Rollstuhl sind 250 Kilogramm. Da braucht man mindesten drei starke Männer um ihn wieder aufzurichten“, sagt seine Mutter.
"Man darf sich nicht aufdrängen“
„Ich fand's lustig, fahre nun mal gern und schnell über kleine Bodendellen“ erwidert der 15-Jährige keck. „Da komme ich manchmal zu Fuß kaum hinterher“, ergänzt seine Begleiterin. Alexander hat Frau Wehlmann auch schon telefonisch um Hilfe gebeten. „Als ich Stress mit einem Lehrer hatte“, sagt er.
Seine Mutter blickt bereits voraus. Der Junge benötige jemanden, der ihm zur Seite steht, vor allem dann, wenn es ihm mit fortschreitender Krankheit schlechter gehen wird. „Man braucht Lebenserfahrung, Einfühlsamkeit, darf sich nicht aufdrängen. Nur so kann ich ermessen, was in der jeweiligen Situation zu tun ist“, sagt Cordula, wie Alexander seine mütterliche Freundin nennen darf. Als sie im Urlaub war und sie ihn nicht besuchen konnte, „war es langweilig“, bekennt er.
„Wenn ich Alexander eine Weile nicht gesehen habe, ist das schon komisch“, erwidert sie. Für die 52-Jährige ist die Begleitung ihres Schützlings spannend, nicht nur wegen des schmalen Grats zwischen Distanz und Nähe. „Alexander wird allmählich erwachsen. Damit ändert sich auch seine Sicht auf die Dinge – beispielsweise was seine Krankheit betrifft, die aufgrund des körperlichen Verfalls immer präsenter wird“, hat sie bemerkt. Während Alexanders Mutter davon überzeugt ist, ihr Sohn wisse nicht, dass er mit seiner Erkrankung keine lange Lebenserwartung hat, sieht Cordula Wehlmann die Sache etwas anders. „Er hat mich gefragt, ob er bald sterben muss.“ Deswegen sei für Alexander jeder neue Tag wichtig, denn was morgen für ihn kommt, vermag niemand zu sagen.