Berlin. Krankenhäuser zählen zu den verwundbarsten Zielen nach Attentaten. Im Wenckebach-Klinikum wird der Einsatz bei einem Anschlag geprobt.
In den ersten Stunden nach dem Terroranschlag am 19. Dezember 2016 am Breitscheidplatz war eine der größten Befürchtungen, dass es irgendwo in der Stadt zu einem „second hit“, einem zweiten Anschlag kommen könnte. Auch bei der Terrorattacke in Paris ein Jahr zuvor schlugen die Täter mehrfach zu. Da in Berlin der Terrorist Anis Amri flüchtig war, galt die Lage lange als unklar. Eine Befürchtung der Sicherheitsbehörden: Amri könnte sich unter die Verletzten gemischt haben und Rettungskräfte attackieren.
Obwohl es nicht so weit kam, begann die Senatsgesundheitsverwaltung nach dem Anschlag damit, Pläne zu entwickeln, was in einem solchen Fall zu tun wäre. Zusätzlich wurde die Krisenvorsorge in den 38 Berliner Aufnahmekrankenhäusern erhöht und die Zahl der Klinikübungen verdoppelt, wie es in einer Lageanalyse der Gesundheitsverwaltung heißt. „Ferner ist nicht auszuschließen, dass auch Krankenhäuser Ziel von Anschlägen oder Amokläufen werden“, steht in der Analyse. In so einer Situation stehe die Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern, Polizei und Rettungsdiensten im Vordergrund.
Genau diese Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte wurde am Mittwochabend in einer laut Senatsverwaltung deutschlandweit einmaligen Großübung durchgespielt. In der Notaufnahme des Vivantes Wenckebach-Klinikums übten 200 Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte und Sanitäter ihr Vorgehen bei einem Anschlag in einem Krankenhaus. Das Szenario: Ein Terrorist, den ein Einsatztrainer und erfahrener Berliner Polizist spielte, wurde mit anderen Schwerstverletzten in der Notaufnahme eingeliefert. Sofort nach der Ankunft eröffnete er das Feuer und schoss wahllos um sich.
Übungsleiter waren am Breitscheidplatz dabei
Geleitet wurde diese Übung von Detlef Cwojdzinski (63) von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Peter-Michael Albers (64), Chefarzt der Rettungsstelle Tempelhof. Das Besondere: Beide waren auch beim Breitscheidplatz im Einsatz. Chefarzt Albers war damals einer der Ersten am Tatort. Er hat all die Bilder der Toten und Verletzten noch im Kopf. Die Rettungskräfte mussten die Opfer klassifizieren und begutachten, wer wie schwer verletzt ist und als Erster abtransportiert werden soll. Cwojdzinski, dessen Spezialgebiet der gesundheitliche Bevölkerungsschutz ist, saß damals in der Einsatzleitung der Senatsverwaltung für Gesundheit. „Wir müssen aus solchen Ereignissen unsere Lehren ziehen, solche Lagen in Übungen durchspielen und schauen, was wir verbessern können“, sagt er. Gemeinsam mit Albers erstellt er seit 1983 „Musterempfehlungen für Krankenhaus-Alarmplanungen“.
Wie lief die Übung am Mittwochabend ab? Nach der Einlieferung in der Notaufnahme schießt der Täter plötzlich um sich, tötet und verletzt dabei Patienten, gerade eingelieferte Terroropfer des ersten Anschlages und Personal. Danach verschanzt sich der Terrorist im Gebäude. Es herrscht Chaos. Auf die Schüsse folgen Geschrei und jede Menge Kunstblut. „Das Durcheinander ist schon sehr realistisch“, sagt Albers, der mit mehreren Experten, darunter Beobachter aus anderen Bundesländern, die Übung verfolgt.

Auf die Schüsse folgt die Panik: Menschen fliehen aus dem Gebäude, überall Schwerverletzte. Nach der Alarmierung rücken Funkwagen und Teile einer Einsatzhundertschaft an. Viele Kräfte sind noch am ersten – fiktiven – Anschlagsort gebunden. Der Polizei gelingt es, den Terroristen zu neutralisieren. Die Beamten beginnen Verletzte aus dem Gebäude zu bergen. Zeitgleich werden die ersten Opfer vom Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr zu einer Ersatznotaufnahme gebracht. „Informationsübermittlung ist ein wesentlicher Inhalt der Übung“, sagt Cwojdzinski. Die Verletzten werden in der Ersatznotaufnahme gesichtet, in Verletzungsgrade eingeteilt und danach auf die Behandlungsbereiche des Wenckebach-Klinikums verteilt. „Ab diesem Zeitpunkt entspricht die Übung einer normalen Berliner Krankenhausübung“, sagt Cwojdzinski.
Interessant für die Beobachter ist auch das, was hinter den Kulissen geschieht. Parallel zum Geschehen stellen die Behörden Einsatzleitungen auf und trainieren Befehlsketten. Dazu gehören die Krankenhauseinsatzleitung (KEL), der Meldekopf der Polizei sowie die Leitung des Rettungsdienstes mit Leitendem Notarzt (LNA) und einem Organisatorischen Leiter Rettungsdienst. Alle müssen zusammenarbeiten und zusammen funktionieren.
Die tatsächliche Arbeit beginnt aber in den kommenden Tagen. Dann werden die Fotos, Videos, Fragebögen und Beobachtungen der Experten ausgewertet. „Im besten Fall wissen wir, was wir in Zukunft besser machen müssen“, sagt Chefarzt Albers. Dass das ein langer Weg sein kann, wissen Albers und Cwojdzinski. Als die beiden vor fast 30 Jahren zusammen angefangen haben, solche Notfallpläne zu erstellen, wurden sie oft belächelt. „Das ist heute anders“, sagt Cwojdzinski nach der Übung. Seit dem Dezember 2016 lacht niemand mehr.