Berlin. Fünf kleine Holzkisten, die an kleine Särge erinnern, stehen zwischen den Kränzen. Darin sind insgesamt 16.000 Knochen von Menschen, denen kein Name und kein Gesicht mehr zuzuordnen ist, die aber endlich würdevoll auf dem Waldfriedhof in Dahlem bestattet werden sollen. Ihre Gebeine wurden zu Forschungszwecken benutzt und die sterblichen Überreste anschließend in einer Grube entsorgt – ganz in der Nähe der Ihnestraße in Dahlem. Dort war von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenetik (KWI-A), das sich in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes und damit auf eine auf Auslese beruhende Politik gestellt hatte.
Zu Tage kamen die Knochen bei Bauarbeiten auf dem Gelände der Freien Universität (FU). Die jahrelangen Untersuchungen, in denen die Herkunft genauer bestimmt werden sollte, sind abgeschlossen. Am Donnerstag wurden die sterblichen Überreste der unbekannten Opfer in den fünf Gebeinekisten nach einer öffentlichen Trauerfeier auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Einige Hundert Menschen waren gekommen, darunter Vertreter des Zentralrats der Juden, des Zentralrats Deutsche Sinti und Roma, der Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolger des Kaiser-Wilhelm-Instituts, der Freien Universität und des Landesdenkmalamtes.
Aber auch viele Privatpersonen. So war es einer Zehlendorferin ein besonderes Anliegen, bei der Beisetzung dabei zu sein. „Ich habe in den 1970er-Jahren Medizingeschichte studiert“, sagt die 67-Jährige. Im Zuge ihre Studiums habe sie von den Experimenten erfahren, die sie als „grausam und kalt“ bezeichnet. Aber niemand in der Ärzte- oder Schwesternschaft hätte sich später dazu geäußert. Neben ihr auf der Bank liegt eine weiße Rose, die sie auf das Grab legen wird.
Uneinigkeit über Frage, ob Knochen weiter analysiert werden sollen
Bei denen im Jahr 2015 gefundenen Knochenfragmenten konnte laut FU-Präsident Günter Ziegler letztlich bestätigt werden, dass sie aus dem ehemaligen KWI-A stammen und im Zusammenhang mit Verbrechen während der Kolonial- und Nationalsozialismus-Zeit stehen. „Es hat eine sorgfältige Untersuchung durch Archäologen der FU stattgefunden, die die Funde mit der Geschichte des KWI-A abgeglichen haben“, erklärt Ziegler im Gespräch mit der Berliner Morgenpost. Im Zuge einer sogenannten geophysikalischen Prospektion, also der systematischen Untersuchung der oberen Erdschicht, habe es keine Anzeichen für weitere Fundstellen gegeben.
Doch wer genau auf dem ehemaligen KWI-A-Gelände begraben wurde, wird wohl nie geklärt werden. In Absprache mit Betroffenengruppen, wie dem Zentralrat der Juden oder dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, wurde sich gemäß Ziegler darauf geeinigt, die Knochen nicht anzubohren, um genetische Analysen durchzuführen. Diese Praxis würde auch gegen jüdische Traditionen der Beisetzung verstoßen.
Opfer können nicht mehr identifiziert werden
„Außerdem wäre der Erkenntnisgewinn nur sehr gering“, betont der FU-Präsident. Es gebe keine Chance, die Opfer zu identifizieren, sondern nur sie nach Gruppen und Weltregionen zu sortieren. „Das wäre zutiefst rassistisch. Genau das wollte die Naziideologie.“
Die Entscheidung, auf weitere Untersuchungen zu verzichten und die Knochen zu begraben, ist in der Wissenschaft aber umstritten. Dem RBB gegenüber sagte die Medizinethikerin Sabine Hildebrandt von der Harvard Medical School in Boston, dass es wichtig sei, die Identität und die Biografien der Opfer weitestgehend zu identifizieren. Sie kritisierte fehlende Transparenz aufseiten der Entscheidungsträger: So sei ein Endbericht zu den Knochenfunden nicht freigegeben und Gespräche mit den Betroffenen nicht dokumentiert worden.
Beisetzung wurde nicht-religiös und nicht-eurozentristisch gestaltet
Vor dem Hintergrund, dass die Knochen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen, wurde bei der Beisetzung bewusst auf eine religiöse Begleitung sowie auf deutsche und europäische Beerdigungstraditionen verzichtet. So wurde die Trauerfeier nicht in der Friedhofskapelle abgehalten sondern auf dem Vorplatz. Stattdessen gab es kleine Ansprachen, die von Musik eingerahmt wurden.
Die Beisetzung soll nur ein Element des Aufarbeitungsprozesses sein: Im ehemaligen Hauptgebäude des KWI-A in der Ihnenstraße 22 und auf dem Außengelände wird eine Ausstellung vorbereitet, die das problematische Kapitel des Ortes sichtbar machen und im Laufe des Jahres 2024 eröffnen soll. „In jedem der vier Stockwerke wird es Ausstellungsteile geben“, beschreibt Manuela Bauche, Leiterin des KWI-A-Aufarbeitungsprojektes, das Konzept. „Die Leute werden somit unweigerlich über die Geschichte des Ortes stolpern.“
Ausstellung soll Verbindung von Forschung und NS-Politik deutlich machen
Ein Anliegen der Ausstellung sei es aufzuklären, wie die rassistische und entmenschlichende Forschungspraxis mit der Politik verbunden war. Das KWIA habe laut Bauche maßgeblich zur Entwicklung eugenischer Maßnahmen in der NS-Zeit beigetragen. „Es wurden beispielsweise sogenannte Abstammungsgutachten erstellt, mit denen Menschen als Juden eingestuft wurden und damit der Verfolgung und Ermordung ausgesetzt wurden.“ In dem Forschungsinstitut seien zudem Begutachtungen, die die Sterilisationspolitik der Nazis stützten, sowie Forschungen an Menschen vorgenommen worden – für Letzteres habe das KWI-A von Lieferungen aus Konzentrations- und Vernichtungslagern profitiert.
Weiterhin wollen Bauche und ihr Team die Geschichten der Menschen erzählen, denen im Kontext der Forschungen am KWI-A Unrecht getan wurde. „Wir haben Biografien rekonstruiert, wenngleich diese manchmal lückenhaft sind.“ So werde die Geschichte einer Person erzählt, die zwei Mal Widerspruch gegen ihre Sterilisierung einlegte und deren letzte Eingabe von Institutsdirektor Eugen Fischer abgewiesen wurde. „Ein umfassendes Bild ihres Lebens können wir aber nicht schildern.“ Schließlich solle durch die Ausstellung auch die Verbindung zur Gegenwart und zum noch heute existierenden Antisemitismus und anderer Menschenfeindlichkeit sichtbar werden.