Reinickendorf
Migration

Berlin braucht Flughafengebäude in Tegel für Flüchtlinge

| Lesedauer: 5 Minuten
Joachim Fahrun
Stockbetten im früheren Flughafengebäude: Weil so viele Menschen in Berlin ankommen, sollen nun neben dem Terminal C auch die Terminals A und B weiter als Notunterkünfte vorgehalten werden.

Stockbetten im früheren Flughafengebäude: Weil so viele Menschen in Berlin ankommen, sollen nun neben dem Terminal C auch die Terminals A und B weiter als Notunterkünfte vorgehalten werden.

Foto: Monika Skolimowska / dpa

Eigentlich sollte nur Terminal C das Ankunftszentrum für Ukrainer sein. Jetzt kommen so viele Asylbewerber, dass es keine Betten gibt.

Berlin. Die Hauptstadt mobilisiert alle Reserven, um den vielen ankommenden Asylsuchenden aus Syrien, Moldau, Georgien und anderen Staaten sowie den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ein Dach über dem Kopf bieten zu können. Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) hat jetzt ihre Senatskollegen informiert, dass sie jetzt auch die beiden Terminals A und B am früheren Flughafen Tegel als vorübergehende Notunterkunft nutzen möchte.

Eigentlich ist das Flughafengelände nur als Ankunftszentrum für Geflüchtete aus der Ukraine vorgesehen gewesen, die hier registriert und in den meisten Fällen in andere Bundesländer weiterverteilt werden. Aber schon an den beiden vergangenen Wochenenden sind so viele Asylbewerber aus anderen Staaten in Berlin angekommen, dass das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) sie nicht mehr auf dem Gelände neben dem Asylbewerber-Ankunftszentrum an der ehemaligen Karl-Bonnhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf aufnehmen konnte. 170 Menschen mussten in Tegel übernachten.

Kipping hofft auf Verständnis ihrer Senatskollegen, obwohl sich nun eventuell die Vorbereitungsarbeiten für die Sanierung des Flughafengebäudes für die Berliner Hochschule für Technik (ehemals Beuth-Hochschule) verzögern könnte. „Wir können auf Terminal A und B in Tegel nicht verzichten. Das muss der Senat beschließen. Wir können nicht ausschließen, dass es im Winter zu einem sprunghaften Anstieg der Geflüchteten-Zahlen aus der Ukraine kommt“, warnte Kipping. „Wer sich dem widersetzt, läuft sehenden Auges in eine Situation, in der man Menschen nicht mehr unterbringen kann.“ Derzeit sind in Berliner Unterkünften des LAF nur noch 200 Plätze frei.

Fachleute der Sozialverwaltung warnen vor Tausenden fehlenden Betten für Geflüchtete

Die Fachleute im Hause Kipping schlagen Alarm: „Bereits zum jetzigen Zeitpunkt ist bei gleichbleibendem Zugang bereits mit einem vierstelligen Defizit in der Unterbringung in AE und GU (Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften, die Red) zu rechnen. Sofern die Annahme der sich verstärkenden Fluchtbewegung aus der Ukraine sich für Berlin bewahrheitet, ist mit einem sehr hohen vierstelligen Defizit zu rechnen“, heißt es in nüchternem Behördendeutsch. Um Obdachlosigkeit der ankommenden Menschen zu vermeiden, sollte der Fokus auf die schnelle Inbetriebnahme von „großflächigen Unterkünften“ gerichtet sein.

Neben anderen Liegenschaften des Bundes ist daher der im Landesbesitz befindliche frühere Tegeler Flughafen in den Blick geraten. Bisher sind für das Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel 1900 Übergangsbetten im Terminalgebäude aufgestellt, die wegen des geringeren Zustroms von Ukrainern jedoch nie voll belegt waren. Eigentlich sollte das Zentrum für den Winter komplett in das frühere Air-Berlin-Terminal C ziehen, wo etwa 800 Betten vorgehalten werden können. Auch die Zelte auf dem Vorfeld werden abgebaut. Nun benötigt Kipping die Flächen im Hauptgebäude aber für die schutzsuchenden Menschen.

Die Zahl der Asylbewerber in Berlin ist jetzt schon höher als im ganzen Jahr 2021

Die Zahlen sind deutlich, der Trend lässt keine Zweifel zu: Im September wurden bundesweit über das System Easy fast 30.000 Asylanträge registriert, knapp doppelt so viele wie vor Jahresfrist. In Berlin meldeten sich 1838 Asylbewerber, fast 600 mehr als im September 2021. Zwar werden viele Menschen nach dem bundesweiten Verteilsystem auch in andere Bundesländer gebracht. Dennoch stieg die Zahl der in der Hauptstadt verbleibenden Antragsteller von 7000 im gesamten Jahr 2021 auf 10.000 in den ersten neun Monaten 2022. Hinzu kommen Zigtausende ukrainische Kriegsflüchtlinge. 338.000 wurden seit dem russischen Angriff aufs Nachbarland in Berlin gezählt, die meisten reisten weiter.

Mehr als 63.500 Menschen wurden durch das Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel geschleust, davon sind 26,000 in Berlin geblieben. Mit den sinkenden Temperaturen und den am Montag wieder aufgenommenen Bombardements der russischen Streitkräfte auf Kiew und andere Städte im Westen der Ukraine wird für Berlin wieder mit steigenden Ankunftszahlen gerechnet. Allein in Polen säßen bis zu einer Million Menschen in nicht winterfesten Notquartieren.

Das Akquise-Team des LAF wird inzwischen vom Krisenstab der Senatssozialverwaltung bei der Suche und Auswahl von möglichen Gemeinschafts- und Sammelunterkünften unterstützt. Dabei kommen inzwischen auch solche Objekte zum Zuge, die bisher wegen zu geringen Standards ausgeschlossen waren. „Die Situation ist wirklich enorm schwierig. Es ist absehbar, dass wir die Qualitätsanforderungen für die Unterbringung senken müssen“, sagte Kipping.

Viele Menschen müssen länger als drei Tage in der Notunterkunft in Tegel ausharren

Weil kaum noch Zimmer verfügbar sind, müssen mehr Menschen länger als eigentlich geplant im Notquartier in Tegel ausharren. Am 7. Oktober, so berichtet Kippings Verwaltung, seien in Tegel 252 Kriegsgeflüchtete gewesen, die schon länger als drei Tage dort genächtigt hatten, weile es keine Alternative für sie gab.

Beim Aufbau von neuen Gemeinschaftsunterkünften und der Reaktivierung von schon zum Abbau freigegebenen Container-Dörfern aus der Zeit nach der Flüchtlingskrise 2015/16 hat Berlin zwar Fortschritte zu verzeichnen, aber das Tempo reicht der Senatorin noch nicht aus. Das Flüchtlingsamt betreibt derzeit 27.700 Unterkunftsplätze, so viele wie nie zuvor. 6000 Plätze kamen in den vergangenen Monaten hinzu, darunter 3000 in Containerdörfern, die eigentlich wegen fehlender langfristiger Genehmigungen geschlossen werden sollten. Kipping verlangte die so genannten Tempohomes wie auf dem Tempelhofer Feld müssten bis mindestens Ende 2023 geöffnet bleiben.