Berlin. TXL im Herbst: Warum die Berliner das Areal rund um den geschlossenen Flughafen als neues Ausflugsziel ansteuern.
Tobias Winkler macht einen Erinnerungsausflug. Der Charlottenburger hat sich spontan auf sein Trekkingrad gesetzt. Eine kleine Runde, erzählt er, mit einem bestimmten Ziel. Locker kurvt der 28-Jährige den Saatwinkler Damm entlang und biegt ein in die Zufahrt zum Flughafen Tegel. Hierhin wollte er. Doch die Straße, die aufs Gelände führt, ist abgesperrt – mit Stacheldraht und dickem Stahlzaun. Es ist unübersehbar: TXL ist geschlossen.
Braune Blätter fegen im Herbstwind über die leere Straße, wo vor wenigen Wochen noch Betrieb herrschte. Im Hintergrund ragen der Tower und das Hauptgebäude hervor mit dem Schriftzug „Berlin-Tegel Otto Lilienthal“. Tobias Winkler steigt vom Fahrrad ab, zückt das Handy, dreht sich um und drückt den Auslöser. Ein Selfie zur Erinnerung. „Diese wunderbare Architektur“, sagt er. „So kompakt.“ Eigentlich hatte er gehofft, „dass man noch die Chance hat, auf die Aussichtsplattform zu kommen.“ Dass die Besucherterrasse auch schon seit drei Wochen dicht ist, quittiert er mit enttäuschtem Blick. „Echt schade.“
Für viele Berliner war der 8. November ein trauriges Datum . Der Tag, an dem Tegel schloss. Am 31. Oktober nahm der BER in Schönefeld als neuer Hauptstadtflughafen den Betrieb auf. Sechs Monate später, im Mai 2021, soll Tegel entwidmet werden – bis dahin bleibt das Gelände zunächst formal ein Flughafen. Eine Spaziergängerin aus Lichtenberg und ihre Freundin aus Charlottenburg sind ins Gespräch vertieft. Die beiden Frauen gehen den Weg hinter der Landebahn entlang und blicken durch den Zaun. „Das ist schon ein Gefühl von Geschichte, wenn man das so sieht“, sagt die eine. „Das war der beste Flughafen überhaupt“, sagt die andere. Sie sind wehmütig. Vom BER sind sie nicht überzeugt, war außerdem viel zu teuer, das Ganze, finden sie – mehr als sechs Milliarden Euro! Unerreicht seien die kurzen Wege in Tegel. Aber, sagt die Lichtenbergerin: „Hier ist jetzt so eine Weite und Stille.“ Gar nicht so unangenehm. Zum Laufen eigentlich herrlich. Die Freundin meint: „Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Berliner das Areal jetzt neu entdecken.“ Nischt wie raus nach Tegel? Es könnte ein Trend werden. Einmal ums Sechseck zum Entspannen.

Flughafen Tegel: Freude über Ruhe beim Spazierengehen
Im Jahr 2018 startete und landete am TXL alle zwei Minuten ein Flugzeug. Es rauschte und dröhnte. Hanna und Odde aus Wedding wissen das. Das Pärchen geht am eingezäunten Flughafen entlang. „Die Flugzeuge flogen direkt über unser Haus. Als es im März wegen Corona keine Flüge mehr gab, ist uns zum ersten Mal aufgefallen, wie ruhig es auf einmal bei uns war“, erzählen sie. Als im Sommer wieder mehr Flüge gingen, haben beide gedacht: Schon schön, dass das bald endgültig vorbei ist. Nun freuen sich die werdenden Eltern über die Ruhe beim Spazierengehen.
Die Reinickendorferin Sandra Weith ist auch auf einer Erinnerungstour. Mit ihrem knallorangefarbenen Mountainbike stoppt sie auf der Brücke über dem Flughafentunnel. „Ich fahre meine Runde und wollte mich mal verabschieden von unserem Flughafen“, sagt sie. Sie sieht sich um. „So leer habe ich das hier ja noch nie erlebt.“ Gestartet ist sie in Frohnau, fährt dann noch um den Tegeler See, denn: „Unter 50 Kilometer lohnt sich das Losfahren ja gar nicht.“ Der Abstecher an den Flughafen war als Zwischenziel aber fest eingeplant, sagt Sandra Weith. Sie macht gleich mal ein Selfie – natürlich mit dem Tower im Hintergrund.
Klein und fein und ein bisschen wie der Flughafen Paderborn
„Ein bisschen hat mich Tegel immer an den Flughafen Paderborn erinnert“, fällt der gebürtigen Nordrheinwestfälin ein witziger Vergleich ein. „Man kommt rein, da sind zwei Schalter, und man wusste sofort, wo man hin muss. Klein und fein.“ Oft sei sie von hier abgeflogen, das weiteste Ziel waren die USA, ein unvergesslicher Flug mit ihren damals noch jungen Kindern. „Tegel ist für uns Erinnerung“, sagt sie. Was nun aus dem Gelände wird, interessiert sie aber auch sehr. Die Unternehmensberaterin ist „gespannt, was so alles an neuen Firmen hier reinkommt“. Sie hofft, dass auf der Fläche etwas Vernünftiges entsteht.
Das soll es, jedenfalls den Planungen zufolge. Den großen Umbau zum neuen Stadtquartier und Campus mit mehr als 5000 Wohnungen, wissenschaftlichen Einrichtungen, Start-ups und Firmen wird man von vielen Stellen aus live beobachten können. Berlin hat den Flughafen Tegel ohnehin im Jahr 2019 unter Denkmalschutz gestellt. Tower und Hauptgebäude werden weiter zu sehen bleiben – im Hintergrund. Kultig und sehr selfie-geeignet.