Reinickendorf. Noch weiß so gut wie niemand in der Wohngegend rund um die Seidelstraße, dass vielleicht in einigen Jahren acht bis zehn Mörder und Sexualstraftäter außerhalb der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel leben, denen Gutachter und ein Gericht eine besondere Gefährlichkeit attestiert hatten. Die Betonung liegt auf noch. „Das wird sich sehr schnell herumsprechen, hier leben Familien mit Kindern“, sagt Marina Stöber, die selbst in einem der Häuser an der Avenue Jean Mermoz wohnt, die direkt von der Seidelstraße abgeht.
Sie ist sich sicher, dass sich viele Anwohner zusammentun werden, um dagegen vorzugehen. „Ob das etwas bringt, wage ich aber zu bezweifeln. Im Grunde ist das schon entschieden. Bürgerbeteiligung wird hier ohnehin nicht so ernst genommen“, sagt Marina Stöber.
Anwohnerin will das Haus mit Sicherungsverwahrten meiden
Ein bisschen Angst werde sie schon haben, wenn die Männer in das Haus einziehen. Schon jetzt gehe sie nachts nicht mehr alleine vor die Tür, in Berlin sei es zu gefährlich geworden – besonders für Frauen. Und wenn jetzt noch das Haus mit den Schwerverbrechern hinzukomme, sei Vorsicht geboten, findet sie. „Wenn ich weiß, wo das Haus ist, werde ich die Gegend meiden, wenn ich kann.“ Ihr Hund gebe ihr eine gewisse Sicherheit.
Klaus-Peter Schwarz lebt mit seiner Frau und mit einem Hund in der Gartenkolonie Am Waldessaum, schräg gegenüber der JVA Tegel. „So ganz wohl ist mir bei der Sache nicht“, sagt er. Schon jetzt werde gerade im Winter regelmäßig in der Kolonie eingebrochen, nun käme das Haus mit den Sicherungsverwahrten hinzu. Panik zu verbreiten sei aber auch der falsche Weg. „Jeder hat eine zweite Chance verdient“, sagt er. Auch wenn das noch nicht so überzeugend klingt.
Nicht jeder hat Angst, einige bleiben gelassen
Jana Marleen Walter geht mit der Nachricht wesentlich lockerer um. Angst hat sie keine. „Ich wohne direkt in der Nähe der JVA. Wir hören öfter, dass jemand ausgebrochen ist. Dann müsste ich ja ständig Angst haben.“ Sie vertraut in den Rechtsstaat, glaubt, dass genau geprüft werde, welche Männer dort untergebracht würden.
„Klar ist es ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite haben die Männer schwere Straftaten begangen. Aber es gibt auch noch ein Leben danach, und auch sie haben eine zweite Chance verdient“, sagt die junge Frau. „Außerdem werden alle auf dieses Haus und die Männer schauen. Die Verantwortlichen werden alles tun, damit bei dem Projekt kein Fehler passiert.“
Ihre Strafe haben Sicherungsverwahrte bereits abgesessen
Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) hatte die Pläne für eine neue Einrichtung des offenen Vollzugs für Sicherungsverwahrte bereits am Dienstag bekanntgegeben. Sicherungsverwahrte sind Menschen – oft Mörder oder Sexualstraftäter –, die ihre Strafe bereits abgesessen haben.
Weil ein Richter ihnen auf der Grundlage psychologischer Gutachten einen Hang attestierte, weitere Straftaten zu begehen, werden sie zum Schutz der Allgemeinheit aber nicht freigelassen, sondern verbleiben getrennt von den Strafgefangenen in der sogenannten Sicherungsverwahrung.
Tagsüber Ausgang, nachts Einschluss
Acht bis zehn dieser Sicherungsverwahrten sollen, voraussichtlich ab Herbst 2020, in einem früheren Wohnhaus an der Seidelstraße untergebracht werden. Nachts bleiben sie dort, tagsüber dürfen sie sich den Plänen zufolge dagegen frei in der Stadt bewegen. Die Justizverwaltung folge mit der Einrichtung dieses offenen Vollzugs einer gesetzlichen Vorschrift, die bereits 2013 erlassen wurde, sagte Behrendt.
Während einige Anwohner skeptisch reagierten, blieb der Protest im politischen Raum überschaubar. „Sicherheit und Schutz der Allgemeinheit haben für uns höchste Priorität“, sagte der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Sven Rissmann. Es müsse sichergestellt sein, dass von den Sicherungsverwahrten keine Gefahr mehr zu erwarten sei. „Senator Behrendt sollte sich hüten, hier aus ideologischen Gründen übereilte Entscheidungen zu treffen“, sagte Rissmann.
Opposition sieht noch offene Fragen
Die FDP sprach von einer „Interessen- und Rechtsgüterabwägung“. „Grundsätzlich ist der Vollzug höchstrichterlicher Rechtsprechung zum Vollzug der Sicherungsverwahrung zu begrüßen“, sagte der FDP-Rechtsexperte Holger Krestel. Er stellte die Frage, , inwiefern es eine engmaschige Betreuung oder Überwachung der betroffenen Personen geben werde und wie sie für ein Leben in Freiheit vorbereitet würden? „Erst wenn diese grundsätzlichen Fragen von Senator Behrendt zur vollsten Zufriedenheit beantwortet werden können, kann dieses Konzept überhaupt gelingen“, sagte Krestel.
Gänzlich ablehnend äußerte sich einzig die AFD. „Wer verurteilte Mörder frei durch Berlin laufen lässt, ist selbst ein Sicherheitsrisiko“, sagte der rechtspolitischer Sprecher der AFD, Marc Vallendar. Sicherungsverwahrung dürfe nicht „zum Hotelaufenthalt“ umgewandelt werden.
Kritik von Wahlkreisabgeordneten
Die Tegeler Wahlkreisabgeordneten der CDU, Emine Demirbüken-Wegner und Stephan Schmidt kritisierten, erst aus den Medien von den Plänen erfahren zu haben. „Das ist Bürgerbeteiligung nach Gutsherrenart“, sagte Demirbüken-Wegner. Auch Schmidt kritisierte eine fehlende Aufklärung. „Jetzt erst Anwohnerversammlungen durchzuführen, das sieht nicht nach Bürgerbeteiligung aus, sondern eher nach Bürgerbeschwichtigung“, sagte Schmidt.
Mörder und andere Schwerverbrecher werden – auch wenn sie zu lebenslanger Haft verurteilt wurden – bundesweit bereits jetzt nach spätestens 15 Jahren freigelassen. Einzig wenn ihnen ein Gericht einen besonderen Hang zu Gewalttaten attestiert, kommen sie in Sicherungsverwahrung. Die Prognose, ob mit weiteren Straftaten zu rechnen ist, muss einmal im Jahr überprüft werden. Mit dem offenen Vollzug will die Justizverwaltung Sicherungsverwahrten, von denen sie annimmt, dass sie aufgrund eines richterlichen Beschlusses bald entlassen werden, auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereiten.