Berlin. Die Berliner SPD-Landesvorsitzende Franziska Giffey und CDU-Landeschef Kai Wegner haben den Drohbrief an die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch scharf verurteilt. „Man muss nicht immer einer Meinung sein, aber so was geht gar nicht“, sagte Wegner zu Beginn des zweiten Sondierungsgesprächs zwischen CDU und SPD am Montag. Der Drohbrief sei eine Grenzüberschreitung und völlig inakzeptabel. „Wir sind alle betroffen von dieser Form von Beleidigung und Bedrohung. Und die Patrone, die versandt wurde, ist der Gipfel einer Entwicklung, die wir seit Längerem sehen“, sagte Giffey. „Es ist generell, dass Hass und Hetze gegen all diejenigen, die in der Politik engagiert sind, extrem zugenommen haben.“
Im Büro der Grünen-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses war am Donnerstag ein Drohbrief an Jarasch inklusive einer Patrone eingegangen. „In den letzten Wochen hat sich, glaube ich, über sehr vielen von uns einiges an Hass ergossen“, sagte Giffey. „Ich finde, gerade an der Stelle müssen wir als Demokraten auch ganz klar zusammenstehen und sagen: So geht’s nicht“, sagte die Regierende Bürgermeisterin. „Das ist über Parteigrenzen hinweg wichtig, um die Demokratie zu erhalten. Das, was wir sehen an Hass und Hetze, ist besorgniserregend.“
Berlin: Morddrohung ist nur Spitze des Eisbergs
Eine Morddrohung verbunden mit einer Kugel in einem Umschlag: Was Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch vor wenigen Tag in Berlin widerfahren ist, ist nach Einschätzung mehrerer Landes- und Bezirkspolitiker nur die Spitze des Eisbergs: Während Beleidigungen am Wahlstand und im Internet schon zum „Standard“ gehören, kommt es immer wieder auch zu Drohbotschaften an der eigenen Haustür oder sogar tätlichen Angriffen. Ein Stadtrat benötigte jüngst Polizeischutz. Die Situation in der Berliner Landespolitik ist schwierig.
„Pöbeleien sind Standard“, sagt etwa der Bezirksverordnete David Paul (CDU) aus Pankow. „Ich wurde schon als alles beschimpft, als Nazi genau so wie als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi“, so der erst 34-Jährige. Online eskalierte die Situation, als er vor knapp einem Jahr öffentlichkeitswirksam den Abriss des Ernst-Thälmann-Denkmals in Prenzlauer Berg gefordert und danach zahlreiche Morddrohungen per E-Mail erhalten hatte. „Die können aber von einer Person oder 20 stammen“, sagt er.
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Wahlkreisbüros mit Kot, Schweineblut und Parolen beschmiert
Doch dabei bleibt es nicht. Tom Schreiber, bis zur Wiederholungswahl Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und dort unter anderem mit Clan-Kriminalität befasst, ist am Rande des 1. Mais vor einigen Jahren mit einer Flasche angegriffen worden. Während die Attacke abgewehrt werden konnte, mussten Polizisten den Politiker und sein Wahlkreisbüro schützen. „Das ist schon mit Kot und Schweineblut beschmiert worden“, so Schreiber.
Der 1,90 Meter große Politiker sagt: „Ich ziehe das durch, lasse mich nicht abschrecken.“ Dennoch gehe er heute anders durch die Stadt als noch vor einigen Jahren. Er beobachtet, ob er erkannt wird, meidet bestimmte Kieze und hält Internet-Posts, die Rückschlüsse auf Familie oder Wohnort zulassen könnten, konsequent aus Social Media raus.
Auch David Paul ist auch schon im richtigen Leben attackiert worden. „2019 wurde ich mit einer Sprühdose angegriffen“, sagt er. Ein Mann habe ihn erst an einem Info-Stand vor einem Supermarkt beschimpft und angekündigt, nach dem Einkauf wieder zu kommen. „Mit einem schwarzen Kapuzenpullover bekleidet, hat er mein Lastenrad mit Farbe besprüht“, schildert Paul den Vorfall. Er traute sich, ging dazwischen und wurde schließlich selbst besprüht und am Arm getroffen.
Doch es ist nicht der einzige derartige Vorfall: „Nach eine öffentlichen Veranstaltung im Bötzowkiez haben sich mir zwei Männer, die sagten, sie seien von der Antifa, in den Weg gestellt und Prügel angedroht“, so David Paul weiter. Dem Politiker gelang es jedoch, die Sache verbal abzuwenden. „Doch nicht jeder ist psychisch oder physisch so stabil“, sagt er. Der durch solche Vorfälle entstehende Druck könne dazu führen, dass Mennschen ihr politisches Engagement einstellen.
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Pankow: Kandidierende werden online und offline diffamiert
Tätlichkeiten auf Personen hat der Grüne Kreisvorsitzende Nicolas Scharioth im jüngsten Wahlkampf zwar nicht erlebt, eine durchaus aggressive Grundstimmung jedoch schon. So seien Kandidierenden als „Kriegstreiber“ beschimpft worden. Abgeordnetenbüros von Louis Krüger und Oda Hassepaß wurden beschädigt. Vor den Büros wurden Parolen wie „Grün ist das neue Braun“ auf den Bürgersteig gesprüht.
Eine Einwicklung, die durch nichts gerechtfertigt sei, aber durchaus auch von der Schärfe der politischen Debatte angeheizt werde, meint SPD-Stadtrat Kevin Hönicke aus Lichtenberg. „So harsch wie jetzt im Wahlkampf war es noch nie“, sagt er. Dabei gibt sich Hönicke in dem Zusammenhang selbstkritisch. Vor wenigen Wochen erst wurde eine Bezirksverordnenversammlung abgebrochen, nachdem sich der Stadtrat ein lautstarkes Wortgefecht mit der Vorsteherin geliefert hatte.
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Danach hatte er Morddrohungen erhalten, der Briefkastens einer Privatwohnung wurde beschmiert, das Schloss zu seiner Wohnungstür zwei Mal zugeklebt. „Das ist eine Ansage, wenn das die Familie mitgekriegt“, sagt er. In der Folge bekam auch Hönicke Polizeischutz, ein Notfallknopf wurde in seinem Büro installiert. Bei einer Tour mit seinem Roller am vergangenen Wochenende kontrollierte er erst sicherheitshalber die Bremsleitungen.