Berlin. Dmitry Berger arbeitet und lebt in seinem Schuh- und Schlüsselservice. Jetzt soll er räumen. Ein Kampf gegen die Verdrängung.

Seit 16 Jahren repariert Dmitry Berger Schuhe und fertigt Schlüssel im Mariendorfer Weg 4 in Neukölln an. Jetzt will das Architektenpaar vom Büro nebenan seine angemietete Fläche nutzen. Vor zwei Jahren kauften sie seinen Schuh- und Schlüsselservice gleich mit. Damit ist nicht nur Dmitrys Job bedroht, denn der Laden ist auch sein Zuhause und erlaubt ihm, in Deutschland zu bleiben.

Wer heute zum Schuster möchte, steht vor der verschlossenen, weißen Tür. Kurz nach dem Klopfen öffnet sie sich und Dmitry winkt etwas hektisch herein. Er wirft einen raschen Blick nach rechts zum Nachbar und schließt wieder zu. Nebenan stehen drei rauchende Frauen in schicker Montur vor einem minimalistischen modernen Büro. Das komplette Gegenbild zu Dmitrys ölverschmiertem T-Shirt und der verstaubten Stube mit tausenden Schlüsseln an der Wand.

Aus dem Raum hinter dem Werkraum kommt Buddy, sein brauner Labrador, fröhlich zur Tür – als seine Frau ihn verließ, hat sie ihn dagelassen. Jetzt ist er sein „einziger Lichtblick“, erzählt Dmitry. Er sieht müde aus. „Ich kann nicht mehr schlafen und mich nicht konzentrieren. Die ganze Zeit denke ich darüber nach, was ich jetzt tun soll.“

Dmitrys Geschäft „Schuh- und Schlüsselservice“ von vorn.
Dmitrys Geschäft „Schuh- und Schlüsselservice“ von vorn. © Victoria Atanasov

Dmitry machte schon immer gern etwas mit den Händen

Dmitry ist eigentlich gelernter Elektroniker, aber als er vor 22 Jahren aus der russischen Stadt Jekaterinburg nach Deutschland kam, übernahm er den Laden. „Zuerst habe ich auf einer Baustelle gearbeitet, aber nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, dass es für mich körperlich nicht ging. Ein Bekannter hat dann gesagt, hey, hier ist dieser Laden und der Besitzer will nicht mehr weitermachen. Ich habe schon immer gern mit Händen gearbeitet und hatte Interesse.“

Die ersten Jahre waren schwer und er musste viel Zeit und Geld investieren, aber jetzt läuft das Geschäft gut. Mit den Jahren hat er sich in Neukölln eine feste Stammkundschaft aufgebaut. Das ganze Haus gegenüber kommt bei ihm vorbei, um sich für fünf Euro ihre Schlüssel nachmachen zu lassen. Und sogar der Neuköllner Grünen-Politiker Bernd Szczepanski vertraut auf Dmitrys Handwerk.

Architekturbüro klagt ihn aus dem Geschäft

Eine schöne Erfolgsgeschichte für einen lokalen Schuster. Wäre da nicht das schicke Architektenbüro von nebenan, das Dmitrys Laden nun mitbenutzen will. Sie erwarben diesen vor zwei Jahren gleich mit, als sie ihr Büro kauften.

Schilder stehen gereiht an der Hauswand des Architektenbüros. Auf ihnen steht: „Stop Zwangsräumung“ und „Dimitry muss bleiben“.
Schilder stehen gereiht an der Hauswand des Architektenbüros. Auf ihnen steht: „Stop Zwangsräumung“ und „Dimitry muss bleiben“. © Victoria Atanasov

Eines Abends letzten Jahres kamen die beiden Architekten bei ihm vorbei und fragten ihn, ob es okay sei, wenn er aus dem Laden ziehen könne. „Es war nicht okay!“, erklärt Dmitry. Aber diese Frage war auch eher indirekt gemeint. Obwohl sie ihm versicherten, er könne solange bleiben, bis er etwas findet, kam dann doch die Kündigung. Die Geduld und Freundlichkeit endete dann mit einer Räumungsklage, nachdem die Frist verstrich, in der Dmitry nichts Neues fand.

Doppeltes Unglück: Laden ist nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch sein Zuhause

Der Grund, warum sie ihm überhaupt kündigen konnten, ist, dass Dmirty nur über einen Gewerbemietvertrag verfügt. Doch Dmitry arbeitet nicht nur, sondern wohnt auch in dem Laden: „Für die Arbeit reicht der Raum hier vorne. Die Verwaltung war einverstanden und hat mir ein Dokument gegeben, dass ich hier wohnen darf.“

Mit dem Verlust des Ladens würde er also auch wohnungslos werden. Mit Hund, keinem Job und außerdem einem Visum, das im März abläuft, ist es zusätzlich mit dem knappen Leerstand in Berlin schwierig für ihn, eine neue Bleibe zu finden.

Hund Buddy beugt sich vor Dmitry. Er erkenne dessen Sorgen oft, erzählt Dmitry.
Hund Buddy beugt sich vor Dmitry. Er erkenne dessen Sorgen oft, erzählt Dmitry. © Victoria Atanasov

Job, Wohnung, Visum durch die Kündigung bedroht

Seit sie ihm gekündigt haben, werfen die Architekten ihm immer wieder Angebote in den Briefkasten, ein ganzer Stapel liegt auf seiner Werkbank, die Gewerbepreise sind mit Marker fett unterstrichen. „Die Mieten sind nicht bezahlbar. Ich habe mir zwei Angebote angeschaut, einmal in Neukölln und einmal in Moabit. Aber sie haben gleich nach meinen Dokumenten gefragt und die wollen nicht vermieten, weil mein Visum im März abläuft“, erzählt der Schuster.

Es ist ein Teufelskreis. Vermieter verlangen eine Aufenthaltsgenehmigung von mindestens zwei Jahren. Aber sein Visum verlängern kann er nur, wenn er Arbeit, also den Laden hat. Deshalb will er bis März bleiben. Dann hat er mit frischem Visum größere Chancen, einen neuen Standort zu bekommen.

Eine Ausreise kommt für ihn nicht in Frage, denn er hat sich in Deutschland ein Leben aufgebaut, mit seinen drei Kindern ist er sehr nah. Von Vorteil wäre auch, hier in der Gegend zu bleiben, denn es ist schwer, sich neue Kundschaft aufzubauen, gerade bei einem aussterbenden Gewerbe wie der Schusterei.

Bei der Kundgebung versammeln sich Anwohner vor dem Schuster und Schlüsselmacher. Glühwein und Stollen gibts dazu.
Bei der Kundgebung versammeln sich Anwohner vor dem Schuster und Schlüsselmacher. Glühwein und Stollen gibts dazu. © Victoria Atanasov

Protest aus der Nachbarschaft

Hinter Dmitry stehen viele Nachbarinnen und Nachbarn, die mit den Jahren Kunden und Freunde geworden sind. Sie wollen nicht hinnehmen, dass die Architekten den Lebensraum Dmitrys wegnehmen un machen sich stark: „Es war uns wichtig, sich in der Nachbarschaft solidarisch zu zeigen“, sagt Fatma aus dem Haus gegenüber.

An ihrem Wohnhaus direkt gegenüber vom Laden hängt ein Banner am Haus: „Architekten vertreiben! Schuster muss bleiben.” Dmitrys Fall sei ein weiteres Beispiel für Verdrängung und Gentrifizierung, heißt es auf der Kundgebung, die aus der Nachbarschaft heraus organisiert wurde. Trotz des Frostes versammeln sich Nachbarn und versorgen die frierenden Gäste mit warmem Glühwein und Stollen.

Auf einem Banner am Nachbarshaus steht: „Architekten vertreiben“ Schuster muss bleiben!“.
Auf einem Banner am Nachbarshaus steht: „Architekten vertreiben“ Schuster muss bleiben!“. © Victoria Atanasov

„Neukölln zeigt, Dmitry bleibt!“

„Das ist krasses Kalkulieren. Sie haben ihn angeguckt und wohl keine finanzielle Macht dahinter gesehen, und dann vollsten Gewissens ausgenutzt. Hätte da ein deutscher Rechtsanwalt sein Büro gehabt, hätten sie sein Grundstück sicher vor zwei Jahren gar nicht gekauft“, so Fatma. Ihm seine Lebensgrundlage wegzunehmen, findet sie nicht in Ordnung.

„Neukölln zeigt, Dmitry bleibt!“, rufen Anwohner und Freunde auf der Straße vor dem Laden. Die Rollläden des Architekturbüros sind schon seit 14 Uhr heruntergelassen – sie haben heute wohl Urlaub. Auf Anfrage der Morgenpost wollen sich die Architekten nicht äußern.

Bezirksamt unterstützt Betroffenen

Nach einer Anfrage der Linksfraktion teilte Stadtrat Jochen Biedermann (Grüne) mit, dass das Bezirksamt Kontakt mit den Eigentümern aufgenommen hat, um die Rücknahme der Kündigung und die Räumungsklage zu erwirken. Eine Antwort vonseiten der Eigentümer steht noch aus.

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