Berlin. Wer die Weite Neuköllns überschauen will, muss sportlich sein. 177 Stufen und ein Pfeil nach oben – das Pensum für den Aufstieg zum Rathausturm von Neukölln hat jemand vorsorglich mit einem Filzstift an die weiße Wand neben der Treppe gekritzelt. Morgenpost-Stammleserin Tanja Dickert deutet nach oben, bittet zum Aufstieg. Für Hajo Schumacher, ihren heutigen Gast, – Spitzname „Achim Achilles“ – eine leichte Übung. Der Morgenpost-Kolumnist und leidenschaftliche Läufer spurtet die 177 Treppen im Eilschritt hoch. Bei der Begegnung anlässlich des 120-jährigen Geburtstags von Dickerts Lieblingszeitung möchte die beiden ihm so nah wie nur möglich sein: dem Himmel über Neukölln.
Seinen Anfang nahm der Leserbesuch, den die Neuköllnerin im Rahmen der Jubiläumsaktion der Morgenpost gewonnen hatte, ganz bodenständig im rathauseigenen Souvenirshop. Hier arbeitet Dickert nicht einfach nur mit. Sie verkörpert auch das Lebensgefühl im Kiez. „Wo sind denn die No-go-Areas?“, fragt Schumacher augenzwinkernd zur Begrüßung. „Gibt keine“, erwidert Dickert mit sorglosem Grinsen.
Tanja Dickert darf den Bürgermeister duzen
Genau wie ihr Gast ist sie eine Frohnatur. Und dafür leistet der Heimatbezirk einen nicht unwichtigen Beitrag. „Neukölln macht glücklich“ verkündet ihr T-Shirt. Natürlich gibt es im Souvenirshop noch andere „Devotionalien“ dieser Art. Touristen greifen gerne zu Kleidungsstücken mit dem Aufdruck „I love NK“ oder drei verschiedene Honigsorten, erzeugt von einheimischen Bienenvölkern. „Schmecken alle ziemlich würzig“, meint Dickert. Sie zeigt Schumacher lokalpatriotische Postkarten, plaudert über ihr Engagement in ihrer Mietergenossenschaft und beim Kunstfestival „48 Stunden Neukölln.“
Gemeinsame Vorlieben und Bekannte sind schnell gefunden. Beide mögen die Kneipe „Valentin Stüberl“ an der Donaustraße. Beide trafen dort die heutige SPD-Bundesfamilienministerin und Ex-Bezirksbürgermeisterin Neuköllns, Franziska Giffey. „Welcher Rathauschef war eigentlich ihr liebster?“, will Schumacher wissen. „Herr Buschkowsky, Frau Giffey oder Martin Hikel, der neue?“ Dickert überlegt kurz und sagt: „Hikel. Das ist wohl der einzige Bürgermeister Berlins, den man duzen kann.“ Giffey, damals noch Kulturstadträtin des Bezirks, war dafür diejenige, die Dickerts Souvenirshop entdeckte und aus einem kleinen Ladenlokal am Richardplatz 2015 ins Rathausfoyer holte. „Hier ist es cool“, urteilt die Fachfrau für lustige Mitbringsel über die prächtig geschmückten Räumlichkeiten. Hajo Schumacher schaut sich um und nickt.
„Das ist der Tourmalet von Neukölln“
Jetzt aber hinauf zum Rathausturm. „Das ist der Tourmalet von Neukölln“, meint der Autor am Gipfel – eine Anspielung auf einen der Bergriesen bei Tour de France. Jetzt blicken die beiden durchs Absperrgitter in die Ferne. Da glitzert das Hotel Estrel, auf dessen Grundstück bald das höchste Gebäude Berlins entsteht. Da überragen die weißen Radar-Kuppeln am Flughafen Tempelhof rote Ziegeldächer. Durch das Gitter weht ein schwülwarmer Wind.
Wie sich die zugezogenen Hipster bemerkbar machen, will Schumacher wissen. „Ich find’s schön, dass Neukölln sich so entwickelt“, heißt es als Antwort. „Früher stiegen die meisten Leute in der U-Bahn am Hermannplatz aus. Ich war eine der wenigen, die weiterfuhren. Das ist heute anders. Jetzt sind wir ‚in‘.“ Dickert war schon immer da, wo heute viele hinziehen wollen. Der Großvater bestritt seinen Lebensunterhalt als Kiezpolizist, der Vater arbeitete als Werbegestalter für Schaufenster. Durch das Fenster des damaligen Hertie-Kaufhauses erblickte er die Frau seiner Träume – Tanja Dickerts Mutter. „Das kann man ja verfilmen“, staunt Schumacher über die Biografie.
Wenn es nach Dickert geht, war der Bezirk nie so bunt und einladend wie im Jahre 2018. „Man muss gar nicht mehr verreisen, um neue Sprachen zu lernen.“ Problematisch sei es am ehesten, wenn die Zugezogenen aus der weiten Welt die Einheimischen nicht mehr verstehen. In vielen Cafés heißt es bei der Bedienung bereits: english only. Da funktioniere die Verständigung mit Alteingesessenen in deutsch-türkischen Cafés manchmal sogar besser.
Immer die gleichen Lese-Rituale
Als die 46-Jährige wieder von ihrem Engagement für die Kunstszene und Nachbarschaftskultur berichtet, entgegnet Schumacher: „Davor habe ich Respekt, das finde ich gut!“ Die Gastgeberin entgegnet: „Aber Sie engagieren sich auch. Sie schreiben.“ Zur Feder greift Dickert im Übrigen ebenfalls. Wenn es die Zeit zulässt, schreibt sie gerne Kurzgeschichten und verarbeitet so ihre Eindrücke aus dem Alltag.
Die Lust am geschriebenen Wort und die Liebe zu Berlin und Neukölln verkörpert für sie die Morgenpost. „Das ist unsere Familienzeitung. Ich kenne sie schon, seitdem ich lesen kann.“ Bis heute sind die Rituale bei der Lektüre die gleichen. „Mein Vater steht schon um 4 Uhr morgens auf und verschlingt die neue Ausgabe beim Frühstück.“ Wenn das Blatt kurz darauf bei Dickerts Mutter angelangt, ist es schon übersät mit Kaffee- und Marmeladenflecken. Das gehört zum Charme des bedruckten Papiers. Was in den Kästchen der verschiedenen Rätsel ungelöst blieb, wird nun liebevoll von der Mutter ergänzt. Auch wenn Tanja Dickert aktuelle Nachrichten meist auf dem Smartphone liest, bleibt die gedruckte Ausgabe im Hause Dickert unverzichtbar – „eine richtige Zeitung gehört auf den Tisch“.
Nach einer halben Stunde auf dem Rathausturm beginnt nun der Abstieg. Begeistert von der Gastfreundschaft im Rathaus an der Karl-Marx-Straße, gelobt Hajo Schumacher, bald wiederzukommen. „Was sind die Überlebensregeln für Neukölln?“, fragt er noch einmal zum Spaß. Tanja Dickert grinst und entgegnet: „Gibt nur eine: Immer freundlich bleiben.“