Nach 13 Jahren muss ein traditionsreiches Neuköllner Geschäft neuen Eigentumswohnungen weichen. Der Familienbetrieb steht vor dem Nichts.
Angelika Schilling ist den Tränen nah. Sie schaut sich um und wirft einen Blick auf die bunt zusammengewürfelten Dinge, denen sie seit über zehn Jahren ihr Leben widmet. Es wirkt wie ein Abschied.
Die 58-Jährige ist Inhaberin des Antik- und Trödelmarktes an der Richardstraße. Das Geschäft liegt im Herzen des Neuköllner Ortsteils Rixdorf, einer beschaulichen Gegend mit Dorfcharakter, eingeklemmt zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee. Hier gibt es eine Schmiede, eine Dorfkirche, Fachwerkhäuser - und den leicht schrullig wirkenden Trödel von Angelika Schilling. Spätestens Ende des Jahres ist es damit vorbei. Der Familienbetrieb muss schließen.
Die Eigentümerin hat das Grundstück verkauft. Dabei habe diese stets versichert, sie auf ewig als Mieterin behalten zu wollen, sagt Schilling. "Das war ein großer Vetrauensbruch." Ihre Stimme zittert. Weil sie sich auf die Zusage verlassen habe, habe sie immer mehr Geld investiert und kaum Rücklagen gebildet.

Seit 13 Jahren verkauft sie Trödelware in einem Ladenlokal mit angrenzendem Hof. Eine kleine Gasse lädt dort zum Flanieren und Stöbern ein. Skier stehen neben alten Schallplatten, es gibt kleine Modellschiffe, Bücher, Sensen und Porzellan. Das Meiste kommt aus Wohnungsauflösungen, Entrümpelungen, Auktionen. "Die Leute lieben das Chaos", sagt Angelika Schilling. Manchmal kämen Fernsehsender um sich für Sendungen wie "Gute Zeiten Schlechte Zeiten" mit Requisiten einzudecken, ergänzt ihr Sohn Micha.
Mit den Jahren haben die Schillings sich eine treue Stammkundschaft aufgebaut. Neben jungen Studentenpärchen zählen auch alteingesessene Rixdorfer dazu. Jung und Alt lässt sich hier gern treiben und schaut sich um. Die Nachricht von der baldigen Schließung habe auch sie geschockt, sagt Angelika Schilling. "Unsere Kunden können es kaum fassen, dass wir aufhören."
Ursprünglich kommen die Schillings aus Kreuzberg. In Neukölln leben sie seit mittlerweile 16 Jahren. Schon damals habe sie zwei kleine Trödelgeschäfte gehabt, erzählt Angelika Schilling. Als ihre Kinder kamen, nahm sie einen Job beim Amtsgericht an, konnte diesen aber nicht behalten. Dann kam der Laden an der Richardstraße.
Wenn die Wohnungen da sind, schauen die Nachbarn auf eine Hauswand
Insgesamt komme man auf eine Verkaufsfläche von rund 2000 Quadratmeter, sagt Sohn Micha, der auch in dem Trödelgeschäft mit anpackt. Angefangen habe alles mit dem kleinen Ladenlokal an der Straße, nach und nach sei dann der Hof zugebaut worden. Auch für den 31-Jährigen ist der täglich geöffnete Trödelmarkt ein Vollzeit-Job. "Wenn man tagtäglich damit zu tun hat, ist der Kopf voll davon."
Nun sollen Eigentumswohnungen auf dem Grundstück entstehen. Eigentlich laufe der Mietvertrag noch bis Dezember, der Eigentümer wolle aber schon ab Juni anfangen zu bauen. Um welche Firma es sich genau handelt, will Micha nicht verraten. Momentan sei die Familie mitten in Verhandlungen über den genauen Auszugstermin, da wolle man nicht zu viel Staub aufwirbeln. Die Immobilienfirma dränge bewusst mitten in die Kieze. Auch die Nachbarn seien wütend über die Entscheidung. Bislang haben diese einen Blick in den Innenhof. "Wenn die neuen Wohnungen kommen, schauen die Leute auf eine Hauswand."
Statistik: Berlin hat weit mehr als 3,5 Millionen Einwohner
In der Rixdorfer Richardstraße wird das alte Dilemma deutlich, in der sich die Berliner Stadtplaner und Wohnungspolitiker seit langem befinden. Auf der einen Seite herrscht akute Wohnungsnot. In Berlin leben so viele Menschen, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Laut des Statistikamtes waren es im Jahr 2015 3,52 Millionen. Gleichzeitig lag der Wert der fertiggestellten Wohnungen 2015 deutlich unter dem tatsächlichen Bedarf an Wohnraum. Das sind die kalten Fakten. Auf der anderen Seite stehen Schicksale wie das von Familie Schilling.
Wie geht es weiter? "Ich weiß es nicht", sagt Angelika Schilling. Ein Umzug sei unmöglich. "So eine Verkaufsfläche bekommen wir nie wieder."
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