Der Wandel im Neuköllner Norden sei nicht zu übersehen, sagt Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD). Doch gleichzeitig gehe es stetig bergab - und die Politik lasse den Dingen ihren Lauf.
Neukölln, so hat es den Anschein, wandelt sich zum Positiven. Studenten, Künstler und Kreative zieht es in den Norden des Bezirks. Die Gegend ist angesagt in der Szene.
Doch der Schein trügt – so jedenfalls sieht es Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD). Der Wandel im Neuköllner Norden sei nicht zu übersehen, werde aber „nach meiner Auffassung in seiner strukturellen Bedeutung maßlos überschätzt“, sagt er. „Durchlauferhitzer“ nennt er das Phänomen.
„Das heißt, junge Leute ziehen her, finden alles hip und schick, aber wenn sie eine Familie gründen, und spätestens wenn die Kinder eingeschult werden, suchen sie sich Alternativen. Entweder nur für den Schulstandort oder gleich für den Wohnsitz.“ Von Ausnahmen abgesehen, komme der Zuzug qualifizierter junger Leute noch nicht in den Grundschulen an. „Wenn dies anders wird, kann es durchaus zu einer Trendwende führen.“
In Neukölln geht es weiter bergab
Und der Trend in Neukölln heißt: Es geht weiter bergab, was Bildung und Beschäftigung der Bewohner angeht. Im Berliner Sozialstrukturatlas 2013 ist der Bezirk auf den letzten Platz abgerutscht. 2012 war er auf dem vorletzten.
Angesichts der Entwicklung der letzten 15 Jahre stelle sich ein Gefühl der Hilflosigkeit ein, sagte Buschkowsky in der Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). „In all diesen Jahren ist trotz zahlreicher Weckrufe an die Landesebene in Neukölln eine stetige Abwärtsspirale zu verzeichnen.“
Daran könnten selbst kleine Einsprengsel, wie sie sich seit zwei bis drei Jahren am Reuterplatz und im Schillerkiez entwickelt haben, nichts ändern. „Die Entwicklung geht mehr oder weniger eindeutig in die Richtung von Stadtvierteln, die wir aus London oder Paris kennen“, sagte Buschkowsky. Dort lasse die Politik den Dingen ihren Lauf, gebe die Gebiete auf und akzeptiere schweigend die Situation. Er könne sich des Verdachts nicht ganz erwehren, so der Bezirksbürgermeister, „dass wir uns in Berlin genau auf diesem Weg befinden.“
Buschkowsky fordert grundsätzliche Änderungen
„Der Sozialstatus von Familien mit Schulanfängern ist am schlechtesten in Neukölln“, so Buschkowsky. „In den Grundschulen sind die Kinder aus sozial stabilen Elternhäusern mit eigenem Erwerbseinkommen nur noch eine Minderheit.“ Dies lasse sich auch daran ablesen, dass die Eltern an Grundschulen bis zu 92 Prozent vom Eigenanteil für Lernmittel befreit seien.
Nötig seien grundsätzliche Änderungen, meint Buschkowsky. Änderungen in der Personalausstattung und Gruppengröße in Kindertagesstätten, auch Änderungen in Schulstrukturen und Klassengrößen. Doch dazu habe nicht der Bezirk das Recht, sondern nur die Senatsverwaltungen. Auch dazu hat der Bezirk nicht die Befugnis: Schulen in sozial schwierigen Gebieten in Ganztagsschulen umzuwandeln, in solchen Gebieten den Kita-Besuch kostenfrei zu gestalten und zur Pflicht zu erklären, und bei Versäumnissen die Kindergeldbezüge oder Transferleistungen der Familien zu stoppen. „Was wir machen können“, so Buschkowsky, „sind stets nur kleine Akzente und Impulse an der einen oder anderen Stelle zu setzen“.
Solche Akzente und Impulse setzt zum Beispiel das Nachbarschaftsheim Neukölln. Im Haus an der Schierker Straße, in den 50er-Jahren von Max Taut errichtet, stehen 50 Plätze für Kinder zur Verfügung, die nachmittags Unterstützung bei Hausaufgaben bekommen. Es ist ein offener Treff. „Nicht mit einer Anmeldung, nicht mit Formalitäten verbunden“, sagt Geschäftsführer Bernhard Heeb. „Sie kommen einfach vorbei.“
Es seien Kinder, die von zu Hause wenig Anregung und Unterstützung bekommen. „Wir versuchen, das ein Stück weit auszugleichen.“ Die Mädchen und Jungen, die zur Hausaufgabenhilfe kommen, leben vor allem in türkischen, arabischen, rumänischen und bulgarischen Familien. Sie bekommen auch Anregungen für die Freizeit im Nachbarschaftsheim. Sie spielen Fußball, töpfern oder gehen in die Gitarren- und Theater-AG.
Engagierte Stadtteilmütter als erfolgreiches Beispiel
Diese Impulse wirken. Die Hausaufgabengruppen des Nachbarschaftsheims werden, Geschäftsführer Heeb zufolge, von den Leitern der beiden nahe gelegenen Grundschulen als „unverzichtbar“ eingestuft. Denn über diese Gruppen bekomme man auch Kontakt zu den Eltern, sagte Heeb. Es gibt viele weitere Engagierte in Neukölln. In seinen Ausführungen vor den Bezirksverordneten nannte Buschkowsky die Stadtteilmütter als Beispiel. Erfolgreiche Integrationsprojekte seien Campus Rütli und das Albert-Schweitzer-Gymnasium.
Entscheidend sei der Aspekt, „ob es gelingt, die Bildungsferne der Bevölkerung zu mindern“, so Buschkowsky. Erfahrungsgemäß könne das nur über die Bildungskarriere der Kinder geschehen. „Wenn Sie eine soziale Abwärtsspirale stoppen wollen, müssen Sie die Kinder und Jugendlichen zu einem selbstbestimmten Leben befähigen.“
Eine Entlastung durch den Zuzug von bildungsorientierten Bevölkerungsgruppen mit höherem Status sei in Neukölln nicht zu verzeichnen, anders als in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte. Der Anteil von Anwohnern nichtdeutscher Herkunft in Neukölln steige kontinuierlich, so Buschkowsky. Er liegt bei 42 Prozent, im Norden des Bezirks sogar bei 53 Prozent.
Der Anteil der Bewohner ohne beruflichen Bildungsabschluss hat sich von 30 auf 34 Prozent erhöht. Nur 39 Prozent der Bevölkerung sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Die Arbeitslosenquote liegt bei 18 Prozent. Berliner Spitzenreiter ist der Bezirk in der Armutsrisikoquote (24 Prozent) und bei der Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger (26 Prozent), ebenso bei der Zahl der Kinder unter 15 Jahre, die Sozialgeld nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten (52 Prozent).