Berlin Walls

Graffiti-Kunst: Die langwierige Suche nach den Halls of Fame

| Lesedauer: 7 Minuten
Birgit Lotze
Ein Stück Hinterlandmauer: Die Hall of Fame im Mauerpark am 8. November 2020.

Ein Stück Hinterlandmauer: Die Hall of Fame im Mauerpark am 8. November 2020.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

„Graffiti-Kunst ist kein Kinderkram, sondern Teil von Berlins DNA“, sagen Sprecher der Graffiti Lobby. Sie fordern mehr legale Wände.

Berlin.  Wieder ein Rückschlag für die Graffiti-Szene in Mitte: Der Napoleonkai, der ehemalige Kiesverladeplatz am Spandauer Schifffahrtskanal, soll renaturiert werden, die Bauarbeiten laufen gerade an. Damit fallen mehr als 1000 Quadratmeter Mauerfläche weg, die bislang von Sprayern genutzt wurden. Die SPD in Mitte hat sich auf ihrer Kreisdelegiertenversammlung dafür ausgesprochen, dass die Graffiti-Künstler dafür entschädigt werden. Die SPD im Bezirksamt solle sich dafür einsetzen, dass umgehend gleichwertige Ersatzstandorte für Graffiti-Kunst zur Kompensation des Abrisses der „Hall of Fame Wedding“ am Napoleonkai freigegeben werden, heißt es in dem Antrag.

Eine echte „Hall of Fame“ war das Areal nicht. Die Wände am Napoleonkai gelten als illegal. Wer hier sprühte, musste mit Strafen rechnen. Die Brache ist ein vergessener Ort, Mülleimer gibt es nicht. Viele Sprayer haben nach getanem Werk ihre Dosen einfach weggeworfen, zu Bergen angehäuft. „Wenn ich hier weggehe und die Polizei wartet um die Ecke, will ich nichts Verdächtiges dabei haben“, erklärte einer der Schwarzmaler auf die offensichtliche Achtlosigkeit angesprochen. Politiker aus Mitte und aus dem benachbarten Bezirk Reinickendorf hatten die Sprühdosenberge wiederholt als Umweltsünde angeprangert.

Die Graffiti Lobby Berlin, die sich seit mehr als zehn Jahren insbesondere für den Zugang zu legalen Flächen für Graffiti und Street Art in Berlin einsetzt, hätte die Mauern am Kanalufer gerne als legale Flächen in ihre Obhut genommen. Eine Hall of Fame wie am Mauerpark war das Ziel von den Lobby-Vertretern Jurij Paderin, Marco Lauber und Tilmann Häußler. Sie wollten Aufräumarbeiten auf dem Gelände organisieren und Container aufstellen.

Daraus wurde nichts. Das zukünftige Naturschutzareal ist Ausgleichsfläche für die Arbeiten an der Einrichtung des nahe gelegenen Zentralen Festplatzes am Kurt-Schumacher-Damm. Das ist bereits 2013 im Bebauungsplatz festgeschrieben worden.

In Kürze steht ein Gespräch von Bezirksvertretern mit der Graffiti Lobby an

In wenigen Tagen soll ein Gespräch von Vertretern des Bezirks und der Graffiti Lobby stattfinden. Darin geht es insbesondere um die Wand im Park am Nordbahnhof, die North Side Gallery. Sie wurde als Modellprojekt für zwei Jahre legalisiert und steht nun für die eine Verlängerung an. Auch Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hat sich mit einem Empfehlungsschreiben dafür eingesetzt, dass sie weiterhin legal nutzbar ist.

Allerdings ist die North Side Gallery aktuell keine Hall of Fame, an der jede oder jeder malen kann, sondern eine kuratierte Fläche. Das heißt: Wer an sie mit dem Pinsel oder der Dose ran will, muss sich anmelden, beim Bezirk einen Antrag auf Sondernutzung stellen. Für ein spontanes Soloprojekt eignet sie sich damit nicht, jedoch für größere, geplante Aktionen: Zum Weltfrauentag beispielsweise, für einen viertägigen Streetart-Jam vom 5. bis zum 8. März, haben sich in diesem Jahr mehr als 50 Künstlerinnen angemeldet.

In Berlin sollen mehr als 10.000 Graffiti-Künstler aktiv sein

Berlin sei die Graffiti-Hauptstadt Europas, schreibt die New York Times. Street Art oder Urban Art gilt nach wie vor als die führende Kunstbewegung der Metropolen. Im Urban Nation – Museum for Contemporary Art an der Bülowstraße in Schöneberg, dem ersten Museum für Urban und Street Art in Berlin, schätzt man die Zahl der in Berlin aktiven Künstler im zweistelligen Tausender-Bereich. Die Graffiti Lobby deutet seit längerem an, dass Berlin seinen guten Ruf zu verlieren droht. Berlin verfüge nicht über ausreichend legale Flächen für Sprüher, schreibt die Graffiti Lobby auf ihrer Homepage. „Trotz des politischen Versprechens nach der bundesweiten Verschärfung der Graffiti-Gesetzgebung 2005, für legale Ausweichflächen zu sorgen, hat sich bisher wenig getan.“

Legalisierung wertet das Umfeld auf und entlastet Polizei und Ordnungsamt

Prinzipiell gilt: Die Legalisierung einer Fläche für Graffiti-Kunst wertet das Umfeld künstlerisch auf, grenzt polizeiliche Verfahren ein und entlastet das Ordnungsamt. Doch bis man sich im Bezirk zur Legalisierung durchringen kann, sind einige Hürden zu überwinden.

Die Evaluierung für die Flächen für Mitte liegt im Kulturamt, aktuell in der Hand von Stefanie Remlinger (Grüne), für die Bezirksbürgermeisterin ist Kultur Chefinnensache. Dort werden denkmalfachliche Stellungnahmen für vorgeschlagene Flächen eingeholt. Handelt es sich bei der vorgeschlagenen Fläche um einen Teil der Hinterlandmauer, wird auch die Stiftung Berliner Mauer einbezogen. Auch Polizei und Ordnungsamt reden mit. In öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen muss sichergestellt sein, dass Graffiti-Künstler und Farben keine Schäden hinterlassen. Außerdem wird abgewogen, ob das öffentliche Interesse genauso gegeben ist wie bei einem öffentlichen Spielplatz und bei Sportfeldern in den Grünanlagen. Auch die Kommission Kunst im Stadtraum bezieht Stellung. Und prinzipiell gilt: Wer die Wand in seine Obhut nehmen will, muss verlässlich sein.

Die Flächen sind in der Evaluation

Aktuell liegen ausschließlich Vorschläge von der SPD und den Linken für Flächen zur Evaluierung vor. Sie sind in den letzten zwei Jahren eingegangen und von der Bezirksverordnetenversammlung beschlossen worden. Da geht um ein 80-Meter-Teilstück der Berliner Mauer zwischen der Feldstraße und der Sebastiankirche, wo auf Antrag hin Sprühen bereits geduldet wird. Auf Freigabe warten auch ein 70 Meter langes Mauerstücks zwischen Berg- und Gartenstraße, Mauern am Bundesratsufer, die Brandwand der Kulturfabrik Lehrter Straße am Spielplatz, die Brandwand des Tiergarten-Gymnasiums und die Müllabstellanlage hinter der Schiller-Bibliothek.

„Die Sprüher der ersten Generation sind bald Rentner.“

Die aktive Kunstszene erhofft sich vor allem Möglichkeiten für die Graffiti-Künstler, die Ausweisung von freizugänglichen Flächen als legal, die „Halls of Fame“, die allen Interessierten zugänglich sind. Es gehe immer wieder um Wandflächen an Jugendeinrichtungen und Schulen, an denen sich der Nachwuchs ausprobieren kann, sagen die Sprecher der Graffiti-Lobby. Wichtig seien aber Flächen für die, die schon seit Jahren dabei seien, so Tilmann Häußler. „Wir brauchen nicht noch mehr Flächen, zu denen nur Kinder und Jugendliche Zutritt haben.“ Die Sprüher der ersten Generation in Deutschland seien bald Rentner, die überwiegende Anzahl der Sprüherinnen und Sprüher sei über 18. Jurij Paderin und Marco Lauber ergänzen, die Lobby fühle sich so nicht ernst genommen. „Graffiti-Kunst ist kein Kinderkram, sondern Teil von Berlins DNA.“

Mehr aus Berlin-Mitte lesen Sie hier.