Berlin . Der Alexanderplatz war immer ein Ort der Moderne. Für Regierungen und fürs Volk. Alfred Döblin setzte ihm ein literarisches Denkmal.

Wo ist die Dame hin? Sie stand vor dem Warenhaus Tietz, „eine Hand ausgestreckt, war ein kolossales Weib, die haben sie weggeschnappt. Vielleicht schmelzen sie sie ein und machen Medaillen draus“, schrieb Alfred Döblin in seinem 1929 erschienenen Roman „Berlin Alexanderplatz“. Eine prophetische Aussage. Denn die in Kupfer getriebene Berolina-Statue, die Ende des Jahres 1895 auf dem Alexanderplatz enthüllt worden war und fünf Tonnen wog, wurde im Sommer 1942, also mitten im Zweiten Weltkrieg, abgebaut – und höchstwahrscheinlich zu Kriegszwecken eingeschmolzen.

Alfred Döblin, der Armenarzt, dessen kassenärztliche Praxis an der Frankfurter Allee in einer Arbeitergegend lag, setzte mit seinem Jahrhundertroman dem Alexanderplatz ein literarisches Denkmal. Die vermisste Berolina, ein Berliner Wahrzeichen aus der Kaiserzeit, am ehesten vergleichbar mit der französischen Nationalfigur Marianne, musste Anfang 1927 dem U-Bahnbau auf dem Alex weichen. Der Magistrat wollte die Chance des temporären Verschwindens nutzen, ein Zeichen für die neue Zeit setzen – mit der Weimarer Republik gab es in Deutschland erstmals eine Demokratie – und Statue verschwinden lassen. Da machten aber die Bürger nicht mit, einige wollten ihren Kaiser wiederhaben, andere zumindest die Berolina. Die Frau kehrte zurück, wurde im Dezember 1933 vor dem Alexanderhaus auf einem neuen Sockel wieder aufgestellt.

Als es auf dem Platz in der Mitte Berlins noch sehr ruhig herging

„Rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch, und die Schienen haut sie wie nichts in den Boden. (...) Viele Menschen haben Zeit und gucken sich an, wie die Ramme haut“, beobachtete Döblin, der den Platz noch aus einer Zeit kannte, „als es dort „sehr ruhig herging und sich in der Mitte ein kleiner Hügel erhob, den ein freundlicher grüner Rasen bedeckte; da gab es auch ein Gebüsch, in dem Bänke standen, auf denen man friedlich beieinander saß, friedlich im Grünen, mitten in Berlin auf dem Alexanderplatz. Wir saßen oft hier, meine Mutter und ich, auch einer meiner Brüder, wenn wir zur großen Markthalle gingen und der Mutter die Taschen trugen. Es fuhren noch Pferdebahnen und es gab noch kein elektrisches Licht“, schrieb Döblin rückblickend auf seine Kindheit in seiner Autobiografie „Schicksalsreise“.

Der Alex, der seinen Namen anlässlich eines Besuches des russischen Zaren Alexander Ende 1805 erhielt, gehört zu den Orten Berlins, für die sich Stadtplaner besonders interessieren. Er war früh ein Geschäftszentrum, Anfang des 20. Jahrhunderts wurden dort drei Warenhäuser errichtet (Tietz, Wertheim und Hahn). Und ein Verkehrsknotenpunkt. So etwas wie das proletarische Gegenstück zum bürgerlichen Potsdamer Platz, den der Maler Ernst Ludwig Kirchner künstlerisch verewigte. Während der Potsdamer Platz bereits 1902 Teil des damals im Aufbau befindlichen Berliner U-Bahnnetzes war, wurde die sogenannte Centrumslinie – die Verlängerung vom Spittelmarkt zum Nordring (heute die Station Schönhauser Allee) – über den Alex erst im Sommer 1913 eröffnet.

U-Bahn-Knotenpunkt setzte Maßstäbe

In den 20er-Jahren kamen zwei Linien dazu, der erste Teil der heutigen U5 und das Kernstück der U8. Es entstand ein Maßstäbe setzender unterirdischer Umsteigebahnhof mit Verkaufsstellen. Und die Stadt nutzte die Bauarbeiten, um auch gleich den Platz oben umzugestalten, um einem drohenden Kollaps des Individualverkehrs vorzubeugen. Es veränderte sich viel im Zentrum der Stadt. Auf dem Alex entstanden bis Anfang der 30er-Jahre parallel zur Stadtbahn zwei markante, in moderner Stahlbeton-Skelettbauweise errichtete Achtgeschosser: das Berolina- und das Alexanderhaus, entworfen vom Architekten Peter Behrens, finanziert von US-amerikanischen Investoren. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verhinderten weitere Neubauten.

Die nächste große Umgestaltung war dem übernächsten politischen System vorbehalten. Die Stadt war geteilt, die Mauer stand schon ein paar Jahre. West-Berlin definierte sich als das Schaufenster der freien Welt, Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR. Ein Wettstreit der Systeme. Die Internationale Bauausstellung im Hansa-Viertel in Tiergarten fand ihr Pendant in der Bebauung der Stalin-Allee (heute wieder Frankfurter Allee) mit sozialistischen Wohnpalästen im Zuckerbäckerstil – und in der Neugestaltung des Alexanderplatzes. Schließlich war das Zentrum der Hauptstadt die Visitenkarte des Landes. Der V. Parteitag der SED hatte 1958 die Idee eines sozialistischen Platzes formuliert, 1964 lobte der Magistrat einen entsprechenden Wettbewerb aus, sechs Architekturkollektive durften teilnehmen.

Die im Ostteil der Stadt erscheinende Zeitung „Neue Zeit“ lenkte den Fokus am 24. Mai 1969 auf die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung: „Bauleute aus westlichen Ländern, die Gelegenheit hatten, sich von dem imposanten Baugeschehen am Alexanderplatz zu überzeugen, bewundern vor allem eine Tatsache: daß es möglich ist, ein Stadtzentrum so konzentriert und umfassend umzugestalten, wie das hier in Berlin praktiziert wird. Immerhin hat es das bisher nicht gegeben, daß zur gleichen Zeit auf einer Fläche von 820 Hektar an etwa 400 verschiedenen Objekten gearbeitet wird.“

Das sei für westliche Begriffe vor allem deshalb erstaunlich, weil „ein solcher Bebauungsplan in dortigen Bereichen zugleich eine Welle von Boden- und Grundstücksspekulationen auslöste, die letztlich das gesamte Baugeschehen nicht nur beeinträchtigte, sondern es auch in höchstem Maße strangulierte“. Als Beispiel für das „kapitalistische Wolfsgesetz“ führte die Zeitung, damals das Zentralorgan der Ost-CDU, die architektonische Neugestaltung des Alexanderplatzes in der Weimarer Republik an und verwies auf enge Kontakte zwischen Spekulanten und „korrupten städtischen Beamten“, was seinerzeit dazu führte, dass in „wenigen Wochen 150 Millionen Mark an Steuergeldern in Taschen dunkler Elemente geflossen waren“.

Siegfried erschießt den Drachen auf dem nachgebauten Alex

Stolz wird auch West-Journalisten das „neue Gesicht Ost-Berlins“, so formulierte es das „Hamburger Abendblatt“, gezeigt. „Selbst kritische Ost-Berliner, denen die neue sozialistische Architektur noch etwas fremd ist, zeigen stolz auf die repräsentativen Betonriesen: den 361,5 Meter hohen Fernsehturm und das 39-geschossige Hotel Berlin am Alexanderplatz“, schrieb die Zeitung am 12. Dezember 1968. Der Fernsehturm war seinerzeit der zweithöchste der Welt, lediglich der Moskauer war mit 540 Metern noch imposanter; ihn übertreffen zu wollen, das wäre aus Politbüro-Sicht vermessen gewesen.

Döblin war nicht der einzige Künstler, der den Platz unsterblich gemacht hat. Frank Castorf, langjähriger Intendant der Volksbühne, hat in seiner Bayreuther „Ring“-Inszenierung bei den Wagner-Festspielen den Alexanderplatz mit seinem sozialistischen Charme nachbauen lassen; Siegfried erspart sich den Kampf mit dem Drachen und erschießt ihn ebendort mit einem Maschinengewehr.

Ironie der Geschichte: Auf dem sozialistischen Musterplatz fand am 4. November 1989 die Abschlusskundgebung der größten Demonstration in der DDR statt. Sie läutete das Ende des Staates ein, fünf Tage später fiel die Mauer.

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