Mittes Bürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) sagt, der Große Tiergarten werde zur rechtsfreien Zone. Ein Ortstermin bei Nacht.

Es dämmert über Berlin, 19 Uhr, der Schleusenweg, der in den Tiergarten führt, wird nur von wenigen Laternen beleuchtet. Ein paar Joggerinnen sind unterwegs in den Park. Am Wegesrand kniet Can und befreit ein Blumengesteck und einen Zettel vom Laub. Darauf: das Foto einer schwarzhaarigen Frau. „Die Leute sollen das lesen“, sagt Can. Es ist die Gedenkstelle für die dort im September ermordete Susanne F., auf dem Zettel steht: „Grausam ermordet von einem Wesen, das die Bezeichnung ‚Mensch‘ nicht verdient.“

Mittlerweile wurde gegen den mutmaßlichen Täter, einen 18-jährigen Russen, Haftbefehl wegen Mordes erlassen. Hätte Can ihn erwischt, sagt er, hätte er ihn ins Krankenhaus geprügelt: „Das war eine Bestie, Digga!“ Can selbst ist obdachlos, seit etwa drei Jahren. Der 30-Jährige hat seine „Platte“ im Tiergarten zwischen Zoo und S-Bahngleisen, in der Nähe des Ausflugslokals Schleusenkrug: Er lebt dort seit über einem Jahr. „Früher hatten wir unsere Ruhe“, erzählt er, „aber in letzter Zeit gibt es ständig Stress.“ Vor allem, sagt er, mit der Polizei und anderen Obdachlosen. „Die denken alle sie wären hier Chef, aber das ist mein Zuhause.“

Spätestens seit dem Mord an Susanne F. ist der über 200 Hektar große Tiergarten im Herzen Berlins nicht mehr nur als grüne Lunge im Gespräch und als Ausflugsort für Touristen, sondern als Hort von Drogen, Gewalt und Prostitution. Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), hat die Situation vor Ort nun als dramatisch beschrieben: Sein Bezirk sei völlig überfordert mit den vielen Obdachlosen. Diese stammten überwiegend aus Osteuropa und seien zunehmend ­aggressiv. Bis zu 60 von ihnen, drogen- und alkoholabhängig, lagerten in verschiedenen Ecken des Parks, so von Dassel. Das bisherige System, das Pro­blem durch Polizeieinsätze anzugehen sei wirkungslos. Der Frust sei deswegen auch bei der Polizei groß. „Diese Menschen haben hier kein Bleiberecht. Berlin muss sich ehrlich machen und die Abschiebung prüfen“, fordert von Dassel. Bereits im April wurde bekannt, dass sich im Park bis zu 25 zum Teil minderjährige Flüchtlinge prostituieren. Es habe sich dort ein dauerhafter Jungenstrich entwickelt.

Nachts bewegen sich im Tiergarten nur Schatten

Schaut man sich abends im Park um, kann man sich vorstellen, wovon von Dassel spricht. Alle paar Meter schlürfen verlotterte Gestalten an einem vorbei, einige kramen in Mülleimern, andere sitzen von Drogen sediert auf Parkbänken.

„Von den Osteuropäern sind einige krass drauf“, sagt Can, viele hätten ein Drogenproblem. Er, der seit Jahren auf Platte lebt, war selbst mal Straßenkämpfer, saß ein in der JVA Moabit. „Aber mit denen lege ich mich nicht an.“ Dann muss er schnell weiter Richtung Bahnhof Zoo, „Dinge erledigen“. Aber er verspricht, dass man sich später an seinem Schlafplatz am Schleusenkrug treffen kann, dann will er mehr erzählen über die Situation im Park.

Das Lokal selbst, der Schleusenkrug, ist für einen Freitagabend recht leer, nur wenige Menschen sind im Park unterwegs. Mittlerweile, es ist 21 Uhr, ist es stockdunkel. Die Wege im Tiergarten sind nur spärlich beleuchtet von kleinen Gaslaternen, ab und an wird man geblendet von den grellen Lampen der Radfahrer, die hier entlang preschen. Von weitem hört man das Rauschen der Autos auf der Straße des 17. Juni. Ab und an schälen sich Schatten aus der Nacht, stolpern an einem vorbei, Bierflasche in der einen, Zigarette in der anderen Hand. Mit Deutsch kommt man bei den meisten nicht weit, „Bulgarski“, sagen sie, „Polski“ oder „Russki“. Ab und an hört man ein Johlen, Lachen oder Schreien; woher das kommt, wer weiß das? Mit den Geschichten im Hinterkopf, dem Mord, dem Wissen um den Kleine-Jungs-Strich, der irgendwo hier im Tiergarten sein soll, ist es ein gespenstischer Ort.

22 Uhr, in der Nähe des Hansaplatzes. Weil die dichten Bäume den Park komplett verdunkeln, sieht man trotz des Vollmondes die Hand vor Augen kaum. Ohne eine Taschen- oder Fahrradlampe ist nicht erkennbar, wo der Weg endet und das Gebüsch beginnt. Geht man dann den Bremer Weg lang, der im Park parallel zur Straße des 17. Juni verläuft, drücken sich abseits der Wege Schatten herum, raschelt es im Gebüsch. Statt Russisch oder Polnisch hört man hier: Arabisch. Junge Männer folgen einem für einige Meter, kehren dann um. Sie warten auf den nächsten Freier. An einer Weggabelung sammeln sich fünf bis sechs von ihnen, geht man langsam auf sie zu, verstreuen sie sich. Es ist still dort mitten im Park, weit und breit kein Licht. Einfach erstmal weiterlaufen, weiter in den Park hinein, weg von den Schatten.

Nach ein paar Hundert Metern durch die Finsternis kommt man an am „Café am Neuen See“. Ein surreales Bild: Drinnen speisen in einem verglasten Bau Menschen am warmen Kaminfeuer, einige Hundert Meter weiter prostituieren sich junge Flüchtlinge, werden immer wieder Menschen belästigt und ausgeraubt. Bezirksbürgermeister von Dassel will auch dagegen vorgehen: Hier sollen mehr Polizeikontrollen helfen, und er sieht den Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) in der Pflicht. Es könne nicht sein, so der grüne Rathauschef, dass in Magazinen wie der „Siegessäule“ diese Art von Prostitution im Park auch noch als Touristenattraktion dargestellt werde.

Selbstverständnis vieler Bewohner: Das ist unser Park

Zurück im Park, am Schleusenkrug. Um 23 Uhr wollte Can auf seiner „Platte“ sein, hatte er gesagt. Er hat dort sein Zelt und seine Jungs. Die sind da, Can nicht. „Wenn er sagt, er ist bald wieder da, kommt er oft erst Tage später“, sagen seine Kumpel Sascha und Toby. Sie haben „keinen Bock“, über den Tiergarten zu reden. „Wir haben hier mit niemandem Probleme bislang, das soll so bleiben“, sagt Toby. Das einzige, was nerve, sei das Ordnungsamt, das sie alle paar Wochen zwinge, ihr Lager abzubauen. „Wir gehen doch auch zu niemandem nach Hause und nehmen deren Wohnung auseinander.“ Ihr Selbstverständnis: Das ist unser Park. Das soll unser Park bleiben.

Thorsten wohnt seit Jahren im Tiergarten und will, dass etwas gegen die
Thorsten wohnt seit Jahren im Tiergarten und will, dass etwas gegen die "Neulinge" aus Osteuropa getan wird © David Heerde

In einer Unterführung unter den Gleisen der Stadtbahn, etwa 100 Meter weiter, sitzt Thorsten, 48 Jahre alt, seit Jahren obdachlos. „In letzter Zeit sind hier viele Neulinge – Polen, Russen und so.“ Seitdem gäbe es mehr Gewalt im Park, auch untereinander. „Zelte von anderen Obdachlosen werden verbrannt, Sachen werden abgezogen.“ Spaziergänger würden angepöbelt. Er kann verstehen, dass von Dassel dagegen vorgehen möchte. „Ich finde das gut“, sagt er, „die bringen nur Probleme in den Park.“ Thorsten hat Angst, dass wegen der vielen Vorfälle am Tiergarten die Bahnhofsmission geschlossen wird. Der Ärger, den die Neuen brächten, würde auf alle Obdachlosen abfärben.

Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission, sieht das Problem im Tiergarten differenzierter. „Wir haben mittlerweile acht bis zehntausend Obdachlose in Berlin und die Zahl wächst weiter.“ Es komme allein durch die Zahl der Obdachlosen zu Konflikten. „Da sind sich die Gruppen untereinander oft nicht grün“, sagt Puhl. Von der Abschiebe-Forderung von Dassels hält er wenig. „Wenn wir den Menschen vernünftige Unterbringungsmöglichkeiten gäben, müssten sie nicht im Tiergarten schlafen“, so Puhl. Und dann, ja dann könnte man sich nachts vielleicht auch wieder ohne Angst im großen Tiergarten bewegen. Denn momentan spaziert die Sorge mit, vor dem, was dort im Dunkeln passiert.

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