Karl-Heinz Richter ist Stadtgeschichte. Den Beweis dafür hält er in der Hand. Einen Miniatur-Karl-Heinz-Richter aus dem 3-D-Drucker, Maßstab 1:24. Er trägt graue, verlumpte Kleider, blonde Haartolle, beide Beine eingegipst. Der 1:24-Richter ist 17 Jahre und wird am 5. Februar 1964 von der Volkspolizei abgeholt. Versuchte Republikflucht.
Der 1:1-Karl-Heinz-Richter ist 70 Jahre und Zeitzeuge der DDR-Diktatur. Er hat keine Haartolle mehr, sondern graue Stoppeln auf dem Kopf, und er hält sein Miniatur-Ich in die Pressekameras. Stolz. Er ist einer von 5.000 Bewohnern der Little Big City Berlin, eine Art interaktive Miniaturwelt, die ab Sommer 2017 die Geschichte Berlins im Pavillon unterhalb des Fernsehturms erzählen soll.
„Wir machen Geschichte zum Anfassen und hautnahen Erleben“, sagt eine Frau, die von der PR-Agentur als „Bürgermeisterin“ des neuen Miniatur-Berlins vorgestellt wird. Eigentlich lautet die Stellenbeschreibung von Anja Nitsch General Managerin. Sie leitet die Miniaturstadt der Merlin Entertainments Group, die in der Hauptstadt bereits das Madame Tussauds, das Sea Life oder das Legoland betreibt. Am Dienstag stellt Nitsch die neue Attraktion vor. Little Big City Berlin soll ein Besuchermagnet werden. Dafür sorgen sollen laut Pressematerialien Spezialeffekte, Projektionen, interaktive Elemente und „beeindruckende 3-D-Modelle“.
Bei der Vorab-Präsentation braucht man einiges an Vorstellungskraft, um das Beeindruckende zu sehen. Ein Mini-Albert Einstein fährt auf seinem Rad durch Schöneberg, der Mini-DDR-Grenzsoldat Conrad Schuhmann springt über Mini-Stacheldraht. Im Sommer soll man großen Persönlichkeiten aus den mittelalterlichen Anfängen Berlins, aus der Zeit der industriellen Revolution, den Goldenen Zwanzigern und der Nachkriegsgeschichte auf dem Rundgang durch Little Big City Berlin begegnen können. Heute werden einige von ihnen für die Fotografen – auch der Mini-Alte-Fritz und Mini-Marlene Dietrich sind dabei – vor dem Mini-Brandenburger Tor aufgereiht.
Und Anja Nitsch sagt: „Es gibt viele Miniaturwelten, aber unsere ist größer.“ Normal sei der Miniatureisenbahnmaßstab 1:87. Zum Beweis stellt sie eine Figur auf den weißen Stehtisch. Kaum zu sehen. Daneben eine im Little BIG Berlin Maßstab 1:24. Aha, raunt es durch die Reihen. Karl-Heinz Richter, der jetzt als Miniatur auch vor dem Brandeburger Tor Platz genommen hat, findet nur lobende Worte für das kleine große Berlin. Junge Leute könne man so für die Geschichte begeistern. „Dann sehen sie, in was für einer tollen Zeit sie leben, in einer Zeit der Freiheit“, sagt Richter. Freiheit, die wollte er als 17-Jähriger auch. Ein Sprung auf einen fahrenden D-Zug sollte ihm dazu verhelfen.
Richter hat die Geschichte unzählige Male erzählt. Er schrieb darüber Bücher, hielt Vorträge, gibt Führungen durch das Stasi-Museum. Abgenutzt wirkt die Geschichte dennoch nicht.
Haarsträubende Fluchtgeschichten
30. Januar 1964. Nacht, Schneematsch. Mit seinem Freund Franky wartete Richter in einer Nische auf dem Bahndamm kurz hinter dem Grenzbahnhof Friedrichstraße. Um 20.53 Uhr sollte dort der Moskau-Paris-Express losrollen. Acht andere hatten es in den Wochen davor auf diesem Weg bereits nach West-Berlin geschafft. Richter hatte die Beschreibung von seinem Freund Wolfgang – der wartet am Bahnhof Zoo auf die DDR-Flüchtlinge.

Als der Zug aus dem Bahnhof ausfuhr, rannten die zwei 17-Jährigen ihm entgegen. Sprangen auf, krallten sich am Haltebügel an der letzten Tür fest, versuchten Halt auf dem Trittbrett zu bekommen. Franky hat es geschafft. Karl-Heinz Richter stürzte. Dann lag er da, zwischen den Gleisen, im Todesstreifen. Der haarsträubenden Fluchtgeschichte widmet Little Big City Berlin nur eine Texttafel, so „Bürgermeisterin“ Anja Nitsch. Denn: Es gibt noch viele andere Geschichten zu erzählen. Ab Sommer wird man auf dem Rundgang, so die Macher der Miniaturstadt, die Gründerväter der Stadt treffen können, man kann beim Bau des Stadtschlosses helfen, Maschinen der Industrialisierung bedienen oder eine Kabarett-Show im Berlin der 1920er-Jahre besuchen.
Zu sehen sein wird der Reichstagsbrand 1933 und die Zerstörungen, die der Zweite Weltkrieg hinterließ. Und schließlich können die Besucher noch die Berliner Mauer zu Fall bringen. Wie die Miniaturwelt entsteht, zeigt ein Making-of-Video. Und mit dem schindet die Vorab-Präsentation am Dienstag dann doch noch einigen Eindruck.
Am Rechner der Modellbauer entstehen detailgetreue Nachbildungen von Schinkelbauten, Tausende Mini-Berliner, Trabis, Statuen. Dann surren riesige 3-D-Drucker, die Gedächtnis-Kirche fließt aus den Düsen und wird später in Handarbeit in den Nachkriegszustand versetzt. Eine Kostümbildnerin gibt Jesse Owens einen detailgetreuen Anstrich für seinen Sprint im Olympiastadion 1936. Creative Director Justin East redet von einer neuen Form des Geschichtenerzählens mit Miniaturen, die neue Technologien ermöglichen. Man nutze sie, um „die fantastischen Geschichten dieser Stadt zu erzählen.“
In Karl-Heinz Richters Geschichte folgte auf den Sturz vom Moskau-Paris-Express ein weiterer Fall. Diesmal sieben Meter tief. Er sprang vom Bahndamm auf die Straße. „Besser als hier erschossen zu werden“, dachte er sich damals. Er brach sich beide Beine und schleppte sich die drei Kilometer bis nach Hause. Was folgte, waren sechs Monate Stasi-Gefängnis. Einzelhaft.
1974 schafft er es dann doch nach West-Berlin. Mit Ausreiseantrag, Frau und Tochter und vier Koffern. In Wirklichkeit habe er damals keine grauen Lumpenkleider getragen, wie der 1:24- Richter. Mit Jeans, Plateauschuhen und Wildlederjacke sei er auf den Zug gesprungen: „Ich wollte bei meiner Ankunft nicht aussehen wie ein Ossi“.