Berlin. Nach sieben Jahren und einer langen Debatte bekommt die Südfassade der Alice Salomon Hochschule (ASH) in Hellersdorf ein neues Gedicht. Künftig zieren Zeilen der Lyrikerin Barbara Köhler das Gemäuer.
Sie lauten: „SIE BEWUNDERN SIE / BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN: // SIE WIRD ODER WERDEN GROSS / ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO // STEHEN SIE VOR IHNEN / IN IHRER SPRACHE // WÜNSCHEN SIE IHNEN BON DIA GOOD LUCK.“
Bislang ist dort das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer zu sehen. Studierende der Hochschule hatten vergangenes Jahr kritisiert, dass dieses sexistische Inhalte vermittele. Die Zeilen, in denen der bolivianisch-schweizerische Schriftsteller über einen Beobachter schreibt, der Frauen, Blumen und Alleen bewundert, würde Frauen mit objektivierbarer Schönheit vergleichen. Mehrheitlich geteilt wurde diese Kritik aber nie, Befürworter hielten das Stück für durchaus interpretationsoffen.
Nach einem Online-Votum des Akademischen Senats entschied die Hochschule Anfang des Jahres dennoch, Gomringers Gedicht zu entfernen und durch eines von Köhler zu ersetzen. Köhler hatte 2016 den Alice-Salomon-Poetik-Preis gewonnen. Künftig sollen die Gedichte auf der Fassade in einem Abstand von fünf Jahren durch Werke der Preisträger ersetzt werden. „Mit der Neugestaltung der Fassade setzen wir nun den Beschluss des Akademischen Senats weiter um“, sagt ASH-Direktor Uwe Bettig.
Komplett verschwinden wird Gomringrs Gedicht nicht, es bleibt auf einer Edelstahl-Tafel im Sockelbereich des Gebäudes erhalten. Daneben kommt ein von Gomringer geschriebener Kommentar sowie ein Hinweis auf die Dokumentation zentraler Beiträge der Fassadendebatte auf der ASH-Website. Eine Bekenntnis, dass Gomringers Gedicht eben nicht eindeutig sexistisch ist.
Im neuen Gedicht von Barbara Köhler werden zudem einzelne Buchstaben von „avenidas“ verwoben, auch nimmt die 59-jährige Sächsin die Debatte um die Neugestaltung der Fassade inhaltlich auf. „Ich habe den Vorschlag gemacht, der Hochschule ein Gedicht zu schenken, um eine Debatte, die nach meinem Dafürhalten gründlich schieflief, womöglich in eine andere Richtung zu bewegen, sie vielleicht ein bisschen ad absurdum zu führen“, sagt Köhler. Aus dem Gedicht davor sei nun ein Gedicht dahinter geworden. Durch die Schrift lasse sich in die Zeit sehen: „Das Aktuelle erinnert das Vorherige, nimmt es auf, löscht es nicht aus."
Das Gedicht wende sich an die Öffentlichkeit, an die Vielen, die den Ort täglich passieren. Und sollte Ihnen daran etwas Spanisch vorkommen und so nicht korrekt, könnte es sich vielleicht auch um eine andere Sprache handeln – Katalanisch zum Beispiel“, sagt Köhler mit Anspielung auf die letzte Zeile ihres Gedichts, in der „Bon Dia“ steht – Katalanisch für „Guten Tag“.
Das Gedicht wird ab Mitte September im Zuge der Komplettsanierung der Südfassade angebracht. Im Frühjahr waren wegen Rissbildungen Bruchstücke der 20 Jahre alten Fassade auf den Gehweg gefallen.
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