Kiezspaziergang

Frau Lehmann spaziert gegen das Altern an

Mit 100 Jahren verzichten andere auf jeden überflüssigen Schritt. Frau Lehmann nimmt aber an jedem Kiezspaziergang teil.

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Thomas Schubert
Immer in der ersten Reihe dabei, auch beim Kiezspaziergang 167 in Wilmersdorf: Hildegard Lehmann lässt sich nicht abhängen. Foto: Carolin Brühl

Immer in der ersten Reihe dabei, auch beim Kiezspaziergang 167 in Wilmersdorf: Hildegard Lehmann lässt sich nicht abhängen. Foto: Carolin Brühl

Charlottenburg-Wilmersdorf. Ihre Schritte sind klein geworden, der Gehstock berührt den Gehweg in kurzen Intervallen. Aber wenn mehr als 300 Kiezspaziergänger losmarschieren, geht Frau Lehmann als gebückte Gestalt in ihrer Mitte. Dann setzt sie alles daran, dass ihr das Teilnehmerfeld nur nicht entgleitet.

Kaum eine Tour verpasst

Neugier steht der winzigen Dame ins Gesicht geschrieben, wenn der Bürgermeister sich zur Menge wendet und per Headset und Lautsprecher kundgibt, was es über diese oder jene Straßenecke zu wissen gilt. Hildegard Lehmann lauscht so wissbegierig wie bei den Spaziergängen zuvor. Kaum eine der inzwischen 170 Touren hat sie versäumt.

Schlittschuh- und Rollschuhlaufen war ihre Domäne

Was muss eigentlich geschehen, damit sie eine dieser drei Kilometer langen Wanderungen an jedem zweiten Sonnabend des jeden Monats verpasst? „Es muss Eis und Schnee liegen“ heißt die Antwort. „Und meine Tochter muss ernsthaft bitten: Mama, bleib zu Hause.“ Der einzige andere Absagegrund liegt in der Mitgliedschaft beim Sportclub Charlottenburg begründet. Dem fühlt sie sich nach 68 Mitgliedsjahren einfach noch mehr verpflichtet. Schlittschuh- und Rollschuhlaufen, das war beim SCC ihre Domäne. „Da war ich noch mit 70 Jahren auf Rollen unterwegs“, merkt die nimmermüde Sportsfrau im Gehen an. „Und ich war Übungsleiterin für die kleinsten Mitglieder. Ich sage Ihnen, das hält jung.“

Im Frühling immer die Mosel runter

Auch die Liebe zum Radfahren mag dazu beigetragen haben, dass ihre Gesundheit bis ins dreistellige Alter robust blieb. Aus Frankfurt am Main, ihrem früheren Wohnort, radelte sie früher im Frühling immer wieder die Mosel hinab. Eine ihrer Lieblingstouren. 1948 zog Frau Lehmann nach Charlottenburg und blieb für immer. Ihr neue Heimat liebt sie so sehr, dass sie der Kiezkunde des jeweiligen Bürgermeisters – erst Monika Thiemen, jetzt in der Ära Reinhard Naumann – so treu blieb wie niemand sonst. Ob sie einen Kiezspaziergang besonders herausheben kann? Frau Lehmann wiegt den Kopf nachdenklich, sagt dann aber diplomatisch: „Interessant waren sie ja alle.“

Verkörperung des Pflichtgefühls

Auf die Frage, womit sie ihr tägliches Brot verdiente, sagt Frau Lehmann: „Mit Kindern.“ Und meint damit nicht nur ihre eigene Tochter. „Ich war Kindermädchen.“ Auch als Näherin und als Fernschreiberin bei der Eisenbahn wirkte sie wie die Verkörperung des Pflichtgefühls. Man braucht Frau Lehmann nicht lange kennen, damit man bemerkt: Sie weiß, was sie sich schuldet, wie sie sich antreiben muss, um bis heute mit Jüngeren Schritt zu halten.

Blick nach vorn gerichtet

Und so stöckelt die älteste und treuste Kiezspaziergängerin Charlottenburg-Wilmersdorfss immer weiter, den Blick nach vorne auf die rote Kappe des Bürgermeisters geheftet. Frau Lehmann spaziert gegen das Altern an, so weit sie ihre Füße tragen, jeden zweiten Sonnabend im Monat. Nur wer stehen bleibe, der fühle sich wie 100, sagt sie und lacht.