Charlottenburg-Wilmersdorf. Wer weiß schon, woher die Wilmersdorfer Lilie im Wappen oder woher das Nagelkreuz in der Gedächtniskirche stammt? Seit Sonnabend wissen es immerhin 400 Kiezspaziergänger. Von Carolin Brühl Ein wenig erstaunt schaute Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann schon auf die volle Ludwigskirche, in der sich die Teilnehmer des 167. Kiezspaziergangs am Sonnabend trafen. Gern angenommen wird das monatliche Angebot des Charlottenburg-Wilmersdorfer Bezirksamts schon, aber mit einer so hohen Zahl hatte es Naumann noch nicht zu tun gehabt. Zum Glück hatte er einen Assistenten dabei, der ein mobiles Lautsprechersystem steuerte. In der Kirche, dem Ausgangspunkt der Stadtwanderung, war es warm, da hörte man gern zu, was Naumann und der Hausherr, Franziskanerpater Maximilian Wagner, über die Kirche und die Geschichte der Gemeinde, deren Gründung in die Entstehungszeit von Groß-Berlin gegen Ende des 19. Jahrhunderts fällt, zu erzählen hatten.
Die Reichsgründung mit Berlin als Hauptstadt und der industrielle Aufschwung ließen viele tausend Arbeitsuchende aus Schlesien, Ostpreußen, Westfalen, dem Rheinland und Süddeutschland nach Berlin strömen. Im Gegensatz zum mehrheitlich protestantisch geprägten Berlin, waren viele der Neuankömmlinge katholisch. Ludwig Windthorst, Oppositionsführer der Zentrumspartei im Deutschen Reichstag, setzte sich besonders für den Bau einer neuen Kirche auf dem damaligen Straßburger Platz in Wilmersdorf ein, wo dann am 29. Juni 1897 die neogotische Backsteinkirche festlich eingeweiht wurde. Kirchenpatron wurde der heilige König Ludwig IX. von Frankreich (1214-70), der die Kirchengemeinde auch mit der weltlichen Gemeinde Wilmersdorf verband. Denn die Lilie, die Ludwig IX. gleich dreifach in seinem Wappen führt, hat auch ihren Weg in das märkische Dorf gefunden. Eine Legende erzählt, daß der französische König seinen mit Lilien verzierten Schild einem Ritter aus dem Geschlecht der "Wilmerstorffer" für seine besonderen Dienste geschenkt haben soll. So sei die Lilie in das Wappen von Wilmersdorf gekommen.
Die Geschichte schien auch den Gästen aus dem hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf, einem Partner des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, gefallen zu haben. Der Männerchor Eintracht von 1876 aus dem Drautphetal, der mit seinem Bürgermeister Bernd Schmidt einen Ausflug nach Berlin nutzte, um die alte Beziehung neu zu beleben, bedankte sich in der Ludwigskirche mit zwei Liedern.
Auf der Spur der Stolpersteine
Naumann führte dann zum Haus Ludwigkirchstraße 8, wo er an zwei Stolpersteinen für Willy Blochert und Eleonore Schayer Namen jüdischer Berliner verlas, die in der Zeit des Nationalsozialismus, in der Straße gelebt haben, dann aber vertrieben, deportiert und ermordet wurden oder den Freitod wählten, um einer Deportation zu entgehen. Allein in der Ludwigkirchstraße sind 55 Stolpersteine verlegt.
Über den Fasanenplatz, wo er erst im September das Gottfried-Böhm-Haus unter Denkmalschutz gestellt wurde, führte der Spaziergang weiter zur Meierottostraße 6, wo der Schriftsteller Walter Benjamin eine Zeit lang wohnte, bevor er auch er vor den Nationalsozialisten in die USA zu fliehen versuchte, sich im spanischen Grenzort Portbou aber das Leben nahm.
Über die Gerhart-Hauptmann-Anlage, wo Naumann an der Büste des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers, auf das sozialkritische Werk verwies, führte die Wanderung weiter am Bundeshaus entlang zum Joachimsthalschen Gymnasium. In dem 1607 in Joachimsthal gegründete Fürstenschule für begabte Knaben befinden sich heute Bereiche der Universität der Künste.
Am Haus der Festspiele vorbei führte die Wanderung weiter zum deutsch-jüdischen Theater Größenwahn. Die große Zahl der Kiezspazierer passte kaum in das winzige Theater an der Meineckestraße 24. "Du hast Dir ein volles Haus gewünscht, ich habe geliefert", sagte Naumann Theaterchef Dan Lahav. Der israelische Schauspieler und Regisseur erzählte vom bunten kulturellen Leben der 20er- und 30er-Jahre in Berlin, an dessen Tradition auch sein Theater anknüpfen will.
Der Name "Größenwahn" sei, so Lahav, nicht nur Ausdruck von Selbstironie, sondern eine Hommage an das Kabarett „Café Größenwahn“, das in den 20-er Jahren von der Schauspielerin Rosa Valetti im „Café des Westens“ betrieben wurde. Es war zu seiner Zeit ein Zentrum des Berliner Geisteslebens und bevölkert von aufstrebenden Literaten, etablierten Kulturgrößen und einer bunten Schar von Künstlern. Das kleine deutsch-jüdische Theater an der Meineckestraße fühlt sich dieser Tradition verpflichtet und bringt Satire mit jüdischem Humor ebenso auf die Bühne wie engagierte Projekte des interkulturellen Brückenbaus. Lahav empfahl eindringlich das aktuelle Stück "Shalom, Salam - wohin?", das ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit setzen und um Verständnis füreinander werben soll.
Der Kiezspaziergang, der auch endete in der Gedenkhalle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einem Gespräch mit Pfarrer Martin Germer und einen kleinen Überblick über die Geschichte Kirche gab, die am 1. September 1895 als Denkmal für Kaiser Wilhelm I. errichtet worden war. Die erste Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche entstand nach einem Entwurf des Baurates Franz Schwechten, der im kaiserlichen Berlin auch den Anhalter Bahnhof baute, als neoromanischer Bau mit gotischen Elementen. Künstler schufen die Mosaiken, Reliefs und Skulpturen. Für den damals neu entstehenden Berliner Westen wurde die Kirche Kristallisationspunkt. Bei einem Bombenangriff wurde die Kirche im November 1943 zerstört. Ihre Turmruine wurde bald zum Mahnmal und schließlich zum Wahrzeichen des westlichen Teils der Stadt Berlin.
Die Geschichte des Nagelkreuzes
In der Gedenkhalle befindet sich auch ein Nagelkreuz. Die Geschichte des Nagelkreuzgedankens begann mit der „Operation Mondscheinsonate“ der deutschen Luftwaffe, dem schweren Luftangriff auf die englische Stadt Coventry vom 14. November 1940, bei dem 550 Menschen starben und bei dem mit großen Teilen der Innenstadt sowie Industrieanlagen auch die spätmittelalterliche St. Michael’s Kathedrale zerstört wurden. Der damalige Dompropst Richard Howard ließ bei den Aufräumarbeiten drei große Zimmermannsnägel aus dem Dachstuhl der zerstörten Kathedrale, die aus den Trümmern geborgen wurden, zu einem Kreuz zusammensetzen. Er ließ außerdem die Worte „FATHER FORGIVE“ (Vater vergib) in die Chorwand der Ruine meißeln und aus zwei verkohlten Holzbalken ein großes Kreuz zusammensetzen. Während das Holzkreuz in der Ruine der alten Kathedrale blieb, steht das originale Nagelkreuz heute auf dem Altar der benachbarten, 1962 geweihten neuen Kathedrale. Es gilt als Zeichen der Versöhnung und des Friedens. Kopien des Nagelkreuzes werden weltweit an Kirchengemeinden übergeben, um diese in ihrer Versöhnungs- und Friedensarbeit zu stärken.