Berlin. Co-Kurator John Colton steht am Schaufenster und zeigt hinaus ins schnee-regnerische Kreuzberg: „Schauen Sie, da drüben war der ,Leierkasten’, da ging Axel Benzmann aus und ein. Da hat alles angefangen.“ Der nordirische Wahlberliner präsentiert nun am neuesten Pop-up-Standort seiner „Browse Gallery“ in Kreuzberg unter dem Titel „Vibes. Die Essenz des Moments“ Fotos der 60er- und 70er-Jahre: edle Schwarz-Weiß-Aufnahmen der ganz Großen des Jazz und ihrer Gastspiele in Berlin.
Eigentlich war Benzmann (1939-2009) lange Fotograf für Westberliner Zeitungen, auch für die Berliner Morgenpost. Die schickte ihn zu allem, was so los war in Berlin. Milieu-Geschichten, Demonstrationen – und wenn die Jazztage waren, dann eben in die Philharmonie. „Benzmann war ein Musikliebhaber, der ist auch abends hingegangen und hat fotografiert, wenn er gar keinen Auftrag hatte“, sagt Colton.
Ausstellung in Kreuzberg: Stars des Jazz bei Berliner Gastspielen
Begonnen hatte der gebürtige Berliner mit druckgrafischen Arbeiten, machte bald Aufnahmen der lokalen Künstlerszene, von der „Kreuzberger Bohème“ bis zu den „Malerpoeten“, zu den Günter Grass zählte. Die waren Stammgäste bei Künstler-Raubein Kurt Mühlenhaupt und dessen Eckkneipe „Leierkasten“ an der Zossener Straße, schräg gegenüber dem Ausstellungsort „Zimmer 48“, wo Colton jetzt ausstellt.
Diese neue Galerie, angemietet bis Ende März für den Europäischen Monat der Fotografie 2023, ist eine Bereicherung für Kreuzberg. Stellenweise so hoch wie eine Turnhalle, mit prächtiger Stuckdecke, viel Holz und feiner Lautsprechertechnik, die an diesem Donnerstagmorgen, als noch Leitern an die Wände gelehnt sind und Co-Kuratorin Sabine Drwenzki nachdenklich letzte Arbeiten positioniert, mit brillantem Understatement Modern Jazz verbreitet.
Fotoausstellung: Auftritte in der Philharmonie Berlin
Die ausgewählten rund 100 Fotografien haben Elan. In vier Räumen sind da etwa die Gospelsängerinnen von Ray Charles zu sehen, Miles Davis nimmt mit gebeugten Knien und ans Horn gestemmten Lippen seine legendäre Pose ein, das Count Base Orchestra lässt in der Philharmonie, wo das Berliner Jazzfest als „Jazztage“ begann, den Boden beben. Manchmal sind am Rand bewegt-begeisterte Berliner zu erkennen, Männer mit Beatnik-Bärten und Rollkragenpullovern unter den Jacketts, Frauen mit prächtigen Haartürmen und mächtigen Ohrclips.
Seine Schau hat Colton gespickt mit begleitenden Veranstaltungen. Am Sonnabend etwa führt Musiker Zam Johnson durch die Ausstellung. Kenner dürfte am Sonntag um 16 Uhr der Dokumentarfilm „De laatse Sessie – Last Date Eric Dolphy“ über den amerikanischen Jazz-Pionier Dolphy locken, der 1964 während eines Berlin-Gastspiels starb. Im anschließenden Talk sitzen Jazz-Experte Wolf Kampmann, Musikjournalist Ulf Drechsel und Hartmut Topf, der Dolphy damals ins Krankenhaus gebracht hatte.
Musik und Fotografie: Coveraufnahmen von Pink Floyd und Britpoppern in Berlin
Vor 36 Jahren kam Colton nach West-Berlin, auf den Spuren seines Idols, Theatermacher Erwin Piscator. Inzwischen ist seine Browse Gallery international unterwegs. Colton und Partner holten Cover-Künstler für Alben von Pink Floyd und Britpoppern nach Berlin, bespielten 40 Orte mit Lokalen und internationalen Fotografen. Im vergangenen Jahrzehnt gab es lange einen festen Sitz in der Marheinekehalle und soeben kommt der 60-Jährige zurück von einem Projekt in Litauen.
„Ich bin zuhause in Nordirland mit Klassik aufgewachsen, später kamen Pubrock, Punk, alles mögliche hinzu“, sagt er. „Aber Jazz ist noch einmal etwas ganz Besonderes. Der ist für mich wie Demokratie: Musiker wählen ein Thema, jeder liefert seinen Beitrag, immer bedacht darauf, im Einklang mit den Anderen zu bleiben. Und dann: Nächster Song, nächstes Thema.“ Wer die Gesichter, Gesten und untereinander gewechselten Blicke der Protagonisten auf Benzmanns Bildern sieht, versteht was John Colton meint.
„Vibes. Die Essenz des Moments“, Browse Gallery c/o Zimmer 48, Zossener Straße 48, 10961 Berlin, 10.-24. März, täglich 14-20 Uhr, Eintritt frei; Vernissage mit Kultursenator Klaus Lederer und Veronika Wilke-Benzmann, Witwe Axel Benzmanns: 10. März, 19 Uhr, Veranstaltungskarten und Reservierungen
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