Berlin. Es ist spät am Donnerstagabend, als Franziska Giffey (SPD) in Friedrichshain auf die Straße tritt und in die Runde ihrer Begleiter fragt: „Dürfen wir?“. Sie nimmt sich die Maske ab, seufzt: „Irgendwann haben wir alle Segelohren“ und lächelt kurz in die Runde. Für einen Moment fällt die Anspannung ab, alle lachen, ihr Stab, ihre Sicherheitsleute, die Gruppe Journalisten und Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke), die neben Giffey steht.
Drei Stunden lang haben Berlins Regierende Bürgermeisterin und die Senatorin am Abend Seite an Seite Geflüchtete aus der Ukraine besucht. Sie haben den unzähligen Helfern am Hauptbahnhof gedankt und danach in einer Unterkunft in Friedrichshain lange den Menschen zugehört, die vor dem russischen Angriff aus der Ukraine geflohen sind. Sie seien tief bewegt, sagen Giffey und Kipping nach den Begegnungen, „von der Situation dieser Menschen, aber auch von der Hilfsbereitschaft der Berliner“, so Giffey. Sie könne sich nicht erinnern, „dass wir in Berlin je so zusammengestanden haben“.
Am frühen Abend hatten die beiden Politikerinnen einer dichtgedrängten Menge von Menschen am Hauptbahnhof gegenüber gestanden, die auf einer Zwischenebene im Hauptbahnhof seit Stunden anstanden. Doch es waren nicht Geflüchtete, die sich da drängten, sondern Anbieter privater Unterkünfte aus allen Teilen der Stadt. Per Megafon bedankte sich Giffey, und fragte einzelne Helfer nach ihrer Motivation. „Da haben Kinder ihr Kinderzimmer für Geflüchtete leer geräumt, jeder überlegt, was er selbst tun kann, die ganze Stadt ist erfasst, von dem Willen zu helfen“, sagt sie danach beeindruckt.
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„Wir in Berlin schaffen das nicht allein“
Allein am Donnerstag sind mit Zügen rund 6000 Menschen aus der Ukraine in Berlin angekommen. Dazu, schätze man, kämen noch etwa doppelt so viele Menschen, die bei Freunden und Bekannten unterkommen, so die Regierende Bürgermeisterin. Bis zu 20.000 Menschen könne das Land Berlin unterbringen. Doch so riesig die private Hilfsbereitschaft zusätzlich sei – „wir in Berlin schaffen das nicht allein“.
Deswegen sei nun der Bund gefordert, die Ankommenden über das ganze Land zu verteilen und Hilfen zu koordinieren, sagt die SPD-Politikerin in Richtung der Journalisten. Es ist eine Aufforderung an die Bundesregierung, aber auch eine Antwort auf Kritik, das Land Berlin sei, zum zweiten Mal nicht vorbereitet – nach dem Ansturm der Flüchtlinge aus dem Syrienkrieg 2015. Damals hatten Menschen teils wochenlang angestanden für eine Registrierung, viele mussten tagelang im Freien übernachten, bis sie unterbracht wurden.
Doch auch am Freitag gab es Stimmen, die von problematischen Zuständen berichteten. So schilderte die Initiative „Willkommen in Reinickendorf“, dass in der Nacht zu Freitag das Ankunftszentrum auf dem Gelände der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik so überfüllt gewesen sei, dass die Menschen vor verschlossenen Türen in der Kälte gestanden hätten. Deswegen würden nun eine nahe Kirche und ein Gemeindehaus nachts geöffnet, heißt es.
Ehemaliges Hotel in Friedrichshain ist zum Obdach für 230 Menschen geworden
In der Unterkunft in Friedrichshain kommen derweil immer neue Gäste an. Sie sitzen und stehen in der Lobby und im Gastraum des „Upstalsboom“ in Friedrichshain. Das ehemalige Hotel, von der Berliner Stadtmission eigentlich gerade als Quarantänestation für Obdachlose eingerichtet, ist kurzfristig zum Obdach für 230 Menschen geworden. Viele Gäste sind Mütter mit Kindern, das jüngste ist ein gerade ein Monate altes Baby. Im Gastraum toben Kinder zwischen den Tischen, sitzen Studenten an Laptops, Kopfhörern und Handys, dazwischen auch ältere Menschen. Alle sehen sehr müde aus. Gefangen im Schock, gerade erst an der Schwelle, zu begreifen, was mit ihnen geschehen ist.
Während Helfer unentwegt Suppe und Imbisse zubereiten, Koffer und Taschen durch den Raum schleppen, Kinder trösten und Menschen empfangen, hören die Politikerinnen an einem Tisch den Menschen zu. Da ist Larissa aus der Nähe von Charkiw, sie ist mit ihren drei Söhnen allein hergekommen. Die Kinder sind acht, zehn und zwölf Jahre alt. Drei Tage habe der Vater seine Familie durch Wälder und Felder zur Grenze gebracht, immer auf der Hut vor Beschuss oder Bomben. Sie seien noch über die letzte Brücke gekommen, bevor auch diese zerstört wurde, berichtet die Mutter. Sie habe die russischen Hubschrauber ankommen hören.
Kinder aus der Ukraine sollen möglichst bald Schulen besuchen
Eine junge Berlinerin übersetzt die Berichte der Flüchtlinge. Olesya Kyselnykva (28) arbeitet eigentlich bei BASF, nach Feierabend ist sie gemeinsam mit ihrem Mann, einem Arzt, ins Hotel der Stadtmission gekommen. Sie kam als Kind mit der Familie aus der Nähe von Donezk, lebt seit 20 Jahren in Deutschland, „jetzt will ich einfach etwas für die Menschen aus meinem Herkunftsland tun.“ Die Stadtmission hat sie gebeten, für Giffey zu übersetzen. Die Regierende Bürgermeisterin, sagt Olesya Kyselnykva, habe auch sehr interessierte Fragen an die Mutter gestellt. „Sie wollte zum Beispiel wissen, wie sie sich jetzt in Berlin aufgehoben fühlt und welche Unterstützung nun am wichtigsten für sie sei.“
Die Antwort der Mutter: Sie hoffe, dass ihre Kinder betreut werden könnten – und perspektivisch auch in die Schule gehen. Giffey wird dies danach auch vor den Journalisten wiederholen und versichern: „Die Schulsenatorin hat ja schon gesagt, es müsse doch möglich sein, dass in jeder Schulklasse ein Stühlchen und ein Teller Suppe für die Kinder aus der Ukraine da ist.“
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Nach Mitternacht kommen neue Matratzen
Im Hotel Upstalsboom wird bis in die Nacht weiter an der Unterbringung gearbeitet. Während Kipping, die selbst Russisch spricht, und Giffey einem älteren Mann und weiteren Flüchtlingen erklären, wie ihre Perspektiven sind (Ukrainer haben zunächst den Status von Touristen, langfristig sei ein Flüchtlingsstatus geplant, alle Kriegsflüchtlinge sollen bleiben dürfen), gehen vorübergehend die Gästebetten aus. 20 bis 40 Matratzen, um neun Uhr am Abend, woher sollen die kommen? Doch die Helfer sind optimistisch. Erst versuchen sie es über einen der Helfer-Chats auf dem Messengerdienst, dann kommt die Nachricht aus der Zentrale der Stadtmission an der Lehrter Straße in Mitte: Matratzen seien unterwegs. Bis Mitternacht werden Helfer sie in einem privaten Auto abgeholt haben. Viel Zeit zum Ausruhen hat in diesen Tagen niemand.
In der Hotellobby sortieren Helfer gespendete Kleider, medizinischen und Hygiene-Bedarf in gestapelte Kisten. Die Stadtmission gehört zu den größten sozialen Trägern der Stadt. In den vergangenen Jahren haben sie hier viel Erfahrung um schnellen Aufbau von Notunterkünften gesammelt. In der Kältehilfe, aber auch während der zwei Jahre Pandemie. Was eben noch Strukturen der Coronakrise waren, wird nun für die Kriegsflüchtlinge weitergenutzt. Ähnlich sei es in der Verwaltung, sagt Giffey. „Dort arbeiten die Mitarbeiter seit zwei Jahren im Krisenmodus.“ Man werde sehen müssen, ob etwa das LAF, das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, aufgestockt werden müsse.
Giffey und Kipping betonen, wie sehr sich das Land auch jetzt schon in der Aufnahme und Verteilung der Ankommenden engagiere. Am Hauptbahnhof stünden Shuttle-Busse in die Unterkünfte des Landes zur Verfügung. Die Flüchtlinge würden auch durch vom Land Berlin beauftragte Sanitäter versorgt. Jeweils zwei Mitarbeiter des LAF informierten am Bahnhof gemeinsam mit Ehrenamtlichen die Ankommenden über Aufnahme und Unterbringung.
Das Kind weint die Tränen, die eigentlich alle hier zurückhalten
Am Hotelempfang haben Helfer ein besonderes Angebot aufgebaut – Spielzeug für die Kinder. Mal schüchtern, mal erfreut nehmen Jungen und Mädchen dort Teddys, Puppen und Spiele in Empfang. Einen Moment lächeln, einen Moment alles vergessen – aber es funktioniert nicht. Als die Politikerinnen gegen 21.30 Uhr das Hotel verlassen, ist im Treppenhaus zu den Hotelzimmern ein herzzerreißendes Kinderweinen zu hören. Helfer eilen nach oben. Aber jeder weiß, dass es nicht nur um ein aufgeschlagenes Knie geht. Das Kind weint die Tränen, die eigentlich alle hier zurückhalten.