Gesundheit

„Soulspace“ in Kreuzberg hilft depressiven Menschen

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Uta Keseling
Helfen bei psychischen Problemen: Chefarzt Andreas Bechdolf und Mario Schellong von der Jugendberatung.

Helfen bei psychischen Problemen: Chefarzt Andreas Bechdolf und Mario Schellong von der Jugendberatung.

Foto: Reto Klar

Depressionen, Ängste, Psychosen - viele junge Berliner finden zu spät Hilfe. Ein ungewöhnliches Projekt in Kreuzberg bietet Beratung.

„Ich wollte mich nicht wie ein Psycho fühlen“ , sagt Moritz. Heute fällt dem 24-Jährigen leicht, das zu auszusprechen. Doch der Schritt, über die eigene Krankheit zu sprechen, liegt noch nicht lange zurück. Zwar hatte er schon als Jugendlicher Anzeichen von Depressionen. „Aber ich hatte Angst, es mir und anderen einzugestehen.“Sechs oder sieben Jahre lang versuchte er, seine depressiven Phasen zu überspielen. Im vergangenen Herbst kam der Zusammenbruch.

Moritz ist ein ruhiger, zugewandter Mensch, der sich gut ausdrücken kann. Von Beruf ist er Mechatroniker. Auf dem Tiefpunkt der Krise, sagt er, „konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, habe mich immer mehr zurückgezogen, konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Mich hat alles überfordert - sogar, nach Hilfe zu googeln“ . Es war seine Mutter, der er schließlich anvertraute, dass er nicht mehr weiter wusste. Als Ärztin bekam sie schließlich über Bekannte einen Tipp, wo ihr Sohn Hilfe finden könnte: Beim „Soulspace“ an der Grimmstraße in Kreuzberg.

Mehr Start-up als Krankenhaus

Der Name klingt ein bisschen nach Club und Musik, die Räume des „Soulspace“ erinnern eher an ein Start-up als an ein Krankenhaus. Das ist so gewollt. Die Einrichtung versteht sich als Anlaufstelle für junge Menschen zwischen 15 und 35 Jahren in psychischen Krisen – unbürokratisch und in einer Sprache aus dem wirklichen Leben. Initiiert haben das Angebot Vivantes-Klinikum am Urban und die Allgemeine Jugendberatung, die seit vielen Jahren in Berlin junge Menschen in seelischen Krisen berät und begleitet. Ein Pilotprojekt, das es so deutschlandweit noch nicht gibt, sagt Andreas Bechdolf, Chefarzt für Psychiatrie im Klinikum am Urban.

Mario Schellong, Regionalleiter der AjB, erläutert, wie es funktioniert: „Die Besucher sollen bei uns unbürokratisch Unterstützung in all den unterschiedlichen Probleme bekommen, die mit einer psychischen Krise eingehen - bei der Arbeit, in der Schule, bei Ämtern, mit dem Umfeld. Und eben auch, was eine Behandlung betrifft.“ Das Besondere: „Man muss nicht wie beim Arzt erst die Krankenkassenkarte zeigen, den Namen nennen, Anträge ausfüllen. Die Besucher können einfach kommen.“

Auch für Moritz war dies ein Argument, sich den Helfern im Soulspace anzuvertrauen. „Ich war zwar früher schon mal in Behandlung, aber als ich Medikamente nehmen sollte, habe ich das abgebrochen.“ Zwar brauchte er noch drei Wochen, bis er tatsächlich anrief. „Das war der schwerste Schritt.“ Alle zwei Wochen kam er dann zu Gesprächen, den Rhythmus bestimmte er selbst. Inzwischen, sagt Moritz, nehme er Medikamente, die gut wirken. „Seit Februar kann ich wieder arbeiten.“ Was ihm geholfen hat? „Die Mitarbeiter im Soulspace können einfach anders zuhören als Freunde oder Familie. Ich bin ihnen sehr dankbar.“

Zahl der Krankschreibungen seit 2007 verdoppelt

„Wir wollen mehr junge Menschen in seelischen Krisen so früh wie möglich in die richtige Behandlung bringen“, sagt Psychiater Bechdolf, der auf dem Gebiet seit Jahren forscht. Während Länder wie Australien, Dänemark oder die Niederlande auf das steigende Problem psychischer Erkrankungen längst reagiert hätten, sei das deutsche System nicht vorbereitet – im Gegenteil. Termine wahrnehmen, sich um Kostenübernahme kümmern, sich überhaupt einzugestehen, dass eine Erkrankung vorliegt - Patienten in Krisen überfordere dies. Mit fatalen Folgen, so Bechdolf: „Je länger psychische Erkrankungen unbehandelt bleiben, desto schwerer und chronischer werden sie.“ Das betreffe wiederum die gesamte Gesellschaft. Bundesweit hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme seit 2007 mehr als verdoppelt.

Und gerade unter jungen Berlinern nimmt das Problem zu. Fast jeder dritte Berliner zwischen 18 und 25 Jahren leidet heute an einer psychischen Erkrankung, ergab 2018 eine Studie der Barmer-Krankenkasse. Seit 2005 ist die Zahl um ein Drittel gestiegen. Häufigste Diagnose sind Depressionen, die fast ein Drittel der jungen Patienten betreffen.

„Bis zur Behandlung vergehen oft Jahre“

Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. „Denn von den ersten Symptomen bis zur Behandlung vergehen oft Jahre“, sagt Psychiater Bechdolf. Deshalb geht es im Soulspace auch um Aufklärung. Oft kämen in die Beratung zunächst Angehörige oder Freunde der Betroffenen, sagt Mario Schellong, die wissen wollten, ob das, was ihnen Sorgen macht, tatsächlich eine Krankheit sei und wie sie damit umgehen sollen. Die Angst von Klienten, lebenslang als „bekloppt“ zu gelten, die eigenen Lebensziele nicht mehr zu erreichen oder auch aus der Psychiatrie nie wieder entlassen zu werden, kennt auch Andreas Bechdolf. „Es gibt viele Fehlinformationen.“ Grundsätzlich seien die Heilungschancen von psychischen Erkrankungen viel größer als bei vielen anderen Diagnosen. „Sie liegen bei 70 bis 80 Prozent.“ Und selbst, wenn man stationär aufgenommen wird, sagt Bechdolf: „Die Verweildauer liegt heute durchschnittlich bei nur noch 20 Tagen.“

Gut ein Jahr gibt es das Kreuzberger Pilotprojekt inzwischen, das durch die Krankenkassen und den Bezirk finanziert wird. Die Projektleiter sind mit dem ersten Erfolg zufrieden. Die Terminkalender des Soul Space sind meist voll. Je ein Drittel der Besucher lässt sich einmalig beraten, nimmt weitere Angebote in Anspruch oder geht weiter zur psychiatrischen Frühdiagnostik. Bechdolf und Schellong macht das Hoffnung. Für die Betroffenen, aber auch darauf, dass ihr Projekt Nachahmer findet und dass das gesamte Hilfesystem endlich beginnt, sich dem wachsenden Bedarf zu stellen. Denn auch für Moritz ist das Problem noch nicht gelöst. Eigentlich sollte er längst eine Psychotherapie machen. „Aber die Wartezeit beträgt in Berlin mindestens ein halbes Jahr.“