Jugendkultur

Die Universität holt Kinder von der Straße

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Christine Eichelmann
Jacques Klement, Burcu Akbaba und Gió Di Sera in der Ausstellung über Geschichte und Erfolge der StreetUniverCity

Jacques Klement, Burcu Akbaba und Gió Di Sera in der Ausstellung über Geschichte und Erfolge der StreetUniverCity

Foto: Massimo Rodari

Er ist auf der Straße groß geworden. Mit der StreetUniverCity bietet Künstler Gió Di Sera Kreuzberger Jugendlichen eine Alternative.

Etwas skeptisch waren die Eltern des 16-Jährigen ja. Graffiti und Rap, Mode und andere Spielarten von Jugendkultur, alles in Kreuzberg „und alles kostenlos. Die haben gedacht, das kann nichts Vernünftiges sein“, sagt Jacques Klement. Seit Kurzem allerdings seien sie „richtig stolz“: Seit der Schüler aus der Stadt Brandenburg beim Semesterabschluss der StreetUniverCity Berlin (SUB) mit Freestyle-Rap auftrat und den Streetmaster bescheinigt bekam. Klement: „Jetzt sind sie voll überzeugt von dem, was ich mache.“

Kinder ohne Perspektive sollen von der Straße geholt werden

Die Ausgabe von zwölf Streetmaster-Zeugnissen, wie die Abschlüsse der SUB heißen, fiel zusammen mit dem Pre-Opening der Ausstellung „StreetUniverCity – Die soziale Skulptur“. Noch bis zum 13. Februar ist die Schau über fast zehn Jahre Straßenuni öffentlich zu sehen. Im Freien Museum an der Schöneberger Bülowstraße hängen Fotos der „Streetfaces“, Gesichter der Straße, außerdem stehen da Relikte eines Wagens, der beim Karneval der Kulturen einst einen Preis errang. Neben Plakatentwürfen zum Musical „Faust“ hängt unter diversen Stanzschablonenbildern auch das von Jacques Klement. Andere Räume informieren über die Geschichte des Jugendprojektes und den Theorieunterricht an der SUB.

Der Keim zur Straßenuniversität war in den 90er-Jahren gelegt worden. Damals hatte Giovanni Battista di Martino, er war vor Drogen, Kriminalität und Camorra aus Neapel nach Berlin geflüchtet, als Reaktion auf eine Welle von Ausländerfeindlichkeit befreundete Künstler mobilisiert. Unter dem Künstlernamen Gió Di Sera war er hier längst etabliert, arbeitete als DJ, Moderator und bildender Künstler. Gemeinsam mit Kollegen startete er Kreativangebote für heranwachsende Kreuzberger. Di Seras Ziel: Jungen und Mädchen ohne Perspektive von der Straße holen und zugleich die Kluft zwischen den Kulturen überbrücken.

Varietas, connexio, dignitas

Das Konzept war so gut, dass sich 15 Jahre lang beim Bezirksamt und in der Wirtschaft Unterstützer fanden und die Arbeit trotz Pausen nie einschlief. 2006, Di Sera hatte sich inzwischen zurückgezogen, nahm er die Fäden erneut in die Hand und gab den Workshops, Kunstaktionen und Wettbewerben mit der StreetUniverCity einen institutionellen Rahmen.

„Varietas, connexio, dignitas“ – Vielfalt, Verbundenheit, Würde – steht auf dem T-Shirt des Unipräsidenten. „Kunst hat eine heilende Wirkung“, sagt der Autodidakt, der selbst im Heim und auf der Straße aufwuchs. „Bei mir hat das funktioniert.“ Allerdings wird bei der SUB nicht nur gemalt und gerappt. Neben den Fachbereichen „Streetculture“, „Kunst und Medien“ sowie „Sport und Kampfkunst“ gehören „Gesellschaft und Politische Bildung“, aber auch „Soziale Kompetenz und Berufsorientierung“ zum Pflichtprogramm.

Alle Teilnehmer erhalten ein Zeugnis

Exkursionen führen zum Antikonflikttraining der Polizei oder in die Jugendstrafanstalt. Politische Bildungsträger bestreiten Workshops zu Meinungsfreiheit oder Frauenrechten. Beim Migrationsrat Brandenburg befasste sich Jacques Klement jüngst mit dem Thema Ausgrenzung. Immer besteht Di Sera auf Zertifikaten: „Wir arbeiten niedrigschwellig, aber mit Bildungsanspruch. Nur Späßchen machen bringt keinen weiter. Die Jugendlichen sollen etwas zum Vorzeigen in den Händen halten.“

Dass mit Kreativität, Visionen und der richtigen Mischung aus Freiheit und Verbindlichkeit auch Berlins Straßenkinder zu begeistern sind, beweist unter anderem Burcu Akbaba. Ihren Nachbarn Di Sera kannte sie schon als kleines Mädchen. In der Jugendeinrichtung Naunynritze, jahrelang Heim für Di Seras Projekt, ging sie ein und aus. Über die Freude am Rappen kam sie zur SUB, „aber zuerst nicht so regelmäßig“, erzählt die heute 28-Jährige und zuckt die Schultern: „Ich war jung und hatte andere Probleme, die erste Liebe und so.“ Doch sie kam immer wieder, machte ihren Streetmaster, hilft jetzt als Alumna und will Dozentin werden.

Nicht jeder schafft den Streetmaster

Ein Erfolgsrezept der SUB: Zu den Dozenten zählen Vorbilder und Stars der Jugend, manche davon früher selbst Kreuzberger Straßenkinder, die ihre Talente auch in Di Seras Projekt entwickelten. Der kurdisch-deutsche Schauspieler Erhan Emre zum Beispiel oder der Rapper Robert Andjelkovic alias Drob Dynamic. Die Autorität ihrer Idole hält auch weniger Zielstrebige bei der Stange. „Und es macht Spaß, gerade weil es keinen Druck gibt“, sagt Jacques Klement. Die ungeschriebenen Gesetze der StreetUniverCity funktionierten, bestätigt Burcu Akbaba. „Rapper, Künstler, Sprüher – ihr müsst nicht den Dealern hinterherschauen“, formuliert Di Sera seine Orientierungshilfe für die Zielgruppe der 15- bis 25-Jährigen.

Rund zwei Dutzend von ihnen kommen pro Durchgang in die mittlerweile im Kinderhaus an der Waldemarstraße 57 residierende SUB. Zwischen 150 und 200 Streetmaster gab es über die Jahre. Nur etwa die Hälfte schafft pro Semester den Titel, für den eine Mindestpunktzahl Grundlage ist. So hoch wie an der Hochschule sind die Hürden nicht, eine gewisse Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit aber werden erwartet, aktiver Einsatz und die Integration in die Gruppe. „Einigen fehlten im letzten Semester nur wenige Punkte. Aber dabei bleibt es, schon wegen der anderen Absolventen“, sagt Di Sera. Den Abschluss bildet jeweils eine Reise in eine Hauptstadt Europas, bei Jacques Klement war es Paris. „Ich komme wieder, mit meiner Freundin“, sagt der Brandenburger.