Ernährungstrend

Wie Stängel von Baby-Möhren die Kantstraße gesünder machen

| Lesedauer: 7 Minuten
Norman Börner
In einem klimatisierten und künstlich beleuchten Nebenraum zeigt Kevin Keßler seine Microgreens. Von der Saat bis zur Ernte dauert es nur sieben bis 14 Tage.

In einem klimatisierten und künstlich beleuchten Nebenraum zeigt Kevin Keßler seine Microgreens. Von der Saat bis zur Ernte dauert es nur sieben bis 14 Tage.

Foto: Sergej Glanze / FUNKE Foto Services

Im „House of Greens“ stehen Keimlinge von Brokkoli oder Möhre auf der Karte. Wie gesund sind sie wirklich? Und wie schmecken sie?

Berlin.  Es ist ein deprimierend düsterer Vormittag im Januar auf der Kantstraße in Berlin Charlottenburg. Der Wind peitscht den Regen über den Asphalt. Mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen und windschiefen Regenschirmen kämpfen sich die Fußgänger über den Bürgersteig. Schnell nach Hause. Aber an einem Schaufenster bleiben zwei Passanten stehen und diskutieren erstaunt. Denn hinter der Scheibe wachsen unter LED-Leuchtstoffröhren in kleinen Edelstahlschälchen nur weniger Zentimeter große Grünpflanzen.

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Kräuter? Zierpflanzen? „Bei geöffneter Tür höre ich oft die Vermutung, es sei Kresse. Vielleicht sollte ich wirklich mal ein Schild anbringen: Keine Kresse!“, sagt Kevin Keßler. Er ist der Inhaber des „House of Greens“ in der Kantstraße und kann das Geheimnis um die grünen Minigewächse lüften. Es sind junge Keimpflanzen, die hier unter der künstlichen Beleuchtung in einem Nebenraum wachsen. Sogenannte Microgreens. Und die sind gerade voll im Trend, wenn es um gesunde Ernährung geht. Was ist da dran?

Vom Rechtsanwalt zum Superfood-Züchter in der Kantstraße in Charlottenburg

Der Verzehr von bestimmten Pflanzenkeimlingen gilt als gesund. Deshalb werden die Mikrogrünlinge bereits im Alter von circa sieben bis 14 Tagen geerntet. Zu den Genießbaren zählt nebenbei auch wirklich die Kresse. Aber auch Rote Bete, Spinat oder Senf sind beliebt – Rotkohl, Brokkoli oder Rettich gibt es ebenfalls in klein. Vertreter der Nachtschattengewächse wie Tomaten und Auberginen sollten trendorientierte Ernährungsbewusste aufgrund des enthaltenen Solanins besser nicht verzehren. Das ist eine chemische Verbindung, die für den Menschen leicht giftig ist. Der Stoff kommt vor allem in Nachtschattengewächsen vor.

Laut einiger Studien sollen Microgreens eine deutlich höhere Nährstoffkonzentration im Vergleich zu ausgewachsenen Pflanzen enthalten. Keßler wurde im Internet auf das grüne „Superfood“ aufmerksam. Denn in den Vereinigten Staaten sind die Mikroversionen von Möhre und Co. schon länger im Trend.

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„Ich bin eigentlich Rechtsanwalt“, sagt der Gründer, der sein Geschäft im vergangenen Jahr neu eröffnete. Früher habe er oft auf der Kantstraße nach einem gesunden Snack für die Mittagspause gesucht. Als die Corona-Pandemie über das Land hereinbricht, beginnt für den 34-Jährigen aber noch eine ganz andere Suche. „Ich saß am Schreibtisch und überlegt, ob ich das mein Leben lang machen will.“ Er kommt zu dem Entschluss, dass er Veränderung braucht. Pflanzenzucht statt Arbeitsrecht. Verkaufstresen statt Schreibtisch.

Geschmack erinnert an ausgewachsenes Gemüse, weicht aber auch ab

Der Laden sei gut angelaufen. Viele sind neugierig, wenn sie die grünen Minibeete hinter der Schaufensterscheibe entdecken. Es gebe sogar schon Stammkunden. Von denen zwei Vertreter zufällig sogar gerade im Laden sitzen. Eike und Nicole Ekort kommen seit der Eröffnung regelmäßig. „Die Microgreens schmecken erstaunlicherweise oft nach dem Gemüse, das später aus ihnen entsteht. Vielleicht in etwas abgeschwächter Form“, sagt Eike Ekort. Aber es gebe auch Unterschiede beim Geschmack.

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So würden die Keimlinge der Radieschen intensiver schmecken, als ihr großes Pendant. Auch Brokkoli sei in der Mikro-Variante irgendwie schärfer. Der Überraschungseffekt besteht auch darin, dass die maximal zwei bis dreiblättrigen Stengel, wirklich verschieden schmecken. Aber sind die Microgreens auch gesünder? Laut mehreren Studien ist die Menge an Vitaminen und Mineralstoffen in vielen Mini-Pflanzen tatsächlich höher, als im ausgewachsenen Gemüse, sagt die Verbraucherzentrale Bremen. Dies treffe aber nicht auf alle Microgreens zu, es gebe aber auch Pflanzen, die im erwachsenen Stadium höhere Gehalte aufweisen.

Auch wenn eine kleine Portion viele Vitamine liefern würden, hinkten sie ihnen diesbezüglich einfach aufgrund der geringen verzehrten Menge hinterher. Eine kleine Portion der Stängel würde dem Körper so zwar viele Vitamine liefern, aber sie könne „normal“ großes Gemüse in der täglichen Ernährung nicht ersetzen.

Microgreens können ausgewachsenes Gemüse nicht ersetzen - und sollen es auch nicht

Im Vergleich zu ausgewachsenem Gemüse mangele es den Microgreens laut Verbraucherzentrale nämlich an Ballaststoffen in Form von Pflanzenfasern. Diese sind wichtig für die Sättigung und einen gesunden Verdauungsapparat. Die kleinen Pflänzchen taugten demnach vor allem als Dekoration oder Topping von Salaten oder Broten – auch in Smoothies könnten sie für die Extraportion Vitamine und Mineralien sorgen.

Genau diesen Ansatz verfolge auch das House of Greens, sagt der Inhaber. „Bei Superfood gibt es viel Etikettenschwindel. Darauf habe ich keine Lust.“ Auf der Karte stehen Bowls, die viele andere gesunde Zutaten enthalten. Die Keimlinge von Sonnenblumen und Möhren lassen sich dann als Topping wählen.

Auch die angebotenen Frühstücksplatten, Waffeln und Kuchensorten werden erst nachträglich mit den Keimlingen belegt. Dazu gibt es Smoothies und Säfte, die aus Microgreens bestehen. Auch Kaffee und Tee werden angeboten. „Die Microgreens ergänzen die Gerichte mit Geschmack und Nährstoffen“, sagt Keßler. Da er kein gelernter Koch ist, habe er einfache Speisen auf die Karte gesetzt, die trotzdem gut schmecken.

Professioneller Anbau in spezieller Nährlösung

Und das scheint nicht zu viel versprochen. Auf Google vergeben 82 Rezensenten die Höchstnote von fünf Sternen. „Obwohl ich Grünkohl gar nicht mag, schmecken mir die Keimlinge sehr gut“, sagt Kundin Nicole Ekort. Weil die Keimlinge nur wenig Platz in Anspruch nehmen, könnten sie auch von Hobbygärtnern in der Küche hochgezogen werden. „Ich habe leider gar keinen grünen Daumen“, sagt Nicole Ekort. Experte Kevin Kreßler beruhigt. Die meisten Microgreens seien recht genügsame und einsteigerfreundliche Pflanzen.

Trotzdem überlässt er in seinem Geschäft nichts dem Zufall. Der Anbau der Microgreens im Store findet komplett hydroponisch in Edelstahlbehältern statt. Das bedeutet, dass die Keimlinge ohne Erde oder sonstiges Substrat angebaut werden. Ihren gesamten Nährstoff- und Wasserbedarf decken sie über eine Nährstofflösung, in der sich ihre Wurzeln befinden. Keßler investiert viel Zeit, den Anbau zu optimieren.

Großes Glück mit kleinen Pflanzen gefunden

Zudem ist die Hygiene besonders wichtig. Deshalb dürfen wir den Zuchtraum auch nicht betreten. Beim Anbau von Sprossen wird Hygiene großgeschrieben, denn der EHEC Ausbruch 2011 durch kontaminierte Bockshornkleesaat zeigte deutlich, dass es sich bei Sprossen um ein sehr anfälliges Lebensmittel handelt.

Da sie direkt vor Ort angebaut und täglich frisch geerntet werden, seien sie extra frisch und eben auch nachhaltig, da der Transportweg komplett entfällt. Im Gegensatz zu Sprossen isst man bei den Microgreens aber nur den überirdischen Teil. Dafür werden die Pflänzchen bei der Ernte am Stielansatz abgeschnitten.

Abgeschnitten hat Kevin Keßler auch sein altes Leben. Eine Entscheidung, die er nicht bereut hat. „Ich habe jetzt ein komplett anderes Leben. Ich arbeite zwar mehr, aber es fühlt sich nicht wie arbeiten an“, sagt der Gründer, der drei Angestellte beschäftigt. Er habe mit den kleinen Pflanzen sein großes Glück gefunden.

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