Er ist immer noch unterwegs. Vielleicht in Berlin. Vielleicht in Nordrhein-Westfalen. Vielleicht in einem anderen europäischen Land. Und er könnte eine Waffe haben – und womöglich eine weitere Gewalttat verüben. Das ist die schlechte Nachricht an diesem Mittwoch.
Die gute: Die Polizei hat einen neuen Tatverdächtigen. Den nur eine Stunde nach der Todesfahrt vom Breitscheidplatz an der Siegessäule festgenommen Pakistani mussten die Beamten am Dienstagabend bekanntermaßen wieder freilassen, weil er mit dem Geschehen schlicht nichts zu tun hatte. Doch dann, in der Nacht zum Mittwoch, beginnen die Beamten mit der Fahndung nach einem 24 Jahre alten Tunesier. Zunächst verdeckt. Die Öffentlichkeit wird nicht informiert, doch Details zu dem Gesuchten und ein Foto gelangen am Mittwochmittag auch so an die Öffentlichkeit. Den offiziellen Fahndungsaufruf veröffentlicht der Generalbundesanwalt erst am Abend.
Interaktiv: Die Chronik des Anschlags
Der Gesuchte heißt Anis Amri. Nach Informationen der Berliner Morgenpost soll er 2012 nach Italien eingereist sein und im April dieses Jahres im nordrhein-westfälischen Kleve Asyl beantragt haben. Im Juni lehnten die Behörden den Antrag ab. Doch eine Abschiebung scheiterte, weil Amri keine gültigen Papiere bei sich hatte. Die nötigen Ersatzpapiere stellte die tunesischen Behörden erst jetzt aus – also nach dem Anschlag. In Deutschland hat Amri sich unter mindestens vier verschiedenen Identitäten registrieren lassen. Gemeldet war er offenbar in einer Asylunterkunft in Emmerich in Nordrhein-Westfalen.
- Beschreibung des Verdächtigen:
1,78 Meter groß
75 Kilogramm
Schwarze Haare, braune Augen
Die Bundesanwaltschaft warnt: Amri könnte bewaffnet und gewalttätig sein. Wer den Gesuchten sehe, solle unbedingt die Polizei benachrichtigen. "Bringen Sie sich selbst nicht in Gefahr, denn die Person könnte gewalttätig und bewaffnet sein."
Die Ermittler fragen:
- Wo ist die abgebildete Person aufgefallen?
- Wo hat sich die abgebildete Person regelmäßig aufgehalten oder bewegt?
Hinweise, die auf Wunsch auch vertraulich behandelt werden können, an das Bundeskriminalamt unter Tel.: 0800-0130110 (gebührenfrei) oder über den Button "Hinweis abgeben" auf der Homepage des BKA
Für Hinweise, die zur Ergreifung des Beschuldigten führen, ist eine Belohnung von bis zu 100.000 Euro ausgesetzt.
Auf die Spur von Anis Amri kommen die Beamten, weil sie im Fußraum der Fahrerkabine des Todes-Lkw eine Geldbörse mit einem Dokument zu seinem Aufenthaltsstatus finden. Wie Abgeordnete berichten, räumt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) in einer Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses ein, dass das Papier erst gefunden wurde, nachdem die Zugmaschine des Sattelschleppers vom Tatort abtransportiert worden war. Das wertvolle Beweisstück lag also mehr als zwölf Stunden in der Führerkabine – ohne dass ein Beamter es bemerkte. Das wirft Fragen nach dem korrekten Vorgehen der Kriminaltechniker auf, heißt es in Ermittlerkreisen. Immerhin, nachdem die Dokumente gefunden sind, läuft die Suche in Berlin auf Hochtouren. Dann vermuten die Fahnder Anis Amri doch eher in Nordrhein-Westfalen.
Alle Informationen zum Anschlag im Liveticker
Dabei ist der Mann den Sicherheitsbehörden schon vor dem Anschlag an der Gedächtniskirche bestens bekannt. Nach Informationen dieser Zeitung stuft die Polizei ihn im Mai dieses Jahres sogar als „Gefährder“ ein. Das heißt, dass die Beamten dem Islamisten zutrauen, jederzeit einen Anschlag zu verüben. Die Behörden fahren das volle Programm. Sie hören seine Kommunikation ab – und erfahren auch auf anderen Wegen Brisantes: Einem V-Mann der Polizei erzählt Anis Amri sogar, dass er Waffen braucht, weil er einen Anschlag begehen will.
Für Aufsehen sorgt auch die Mitteilung, dass das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt (LKA) gegen Amri bereits vor der Todesfahrt ermittelt habe – wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Das Verfahren sei zunächst an den Generalbundesanwalt abgegeben worden – und dann von der Berliner Generalstaatsanwaltschaft weiter geführt worden. Nach Morgenpost-Informationen verkehrte Anis Amri, wenn er sich nicht in Nordrhein-Westfalen aufhielt sondern in Berlin, immer wieder in einer als Treffpunkt von IS-Sympathisanten bekannten Moschee an der Perleberger Straße in Moabit. Gegen Besucher der Moschee laufen etliche Terror-Verfahren.
Bereits im März ein Verfahren eingeleitet
Wie die Berliner Generalstaatsanwaltschaft dann am Mittwochabend mitteilte, wurde gegen Amri bereits im März ein Verfahren eingeleitet. Es habe Hinweise gegeben, dass er einen Einbruch geplant habe, um Geld für den Kauf automatischer Waffen zu beschaffen. Zudem gab es den Verdacht, dass er im Görlitzer Park als Kleindealer tätig gewesen sein könnte. Amri soll außerdem enge Kontakte zur kürzlich verbotenen Salafisten-Gruppe „Die wahre Religion“ gehabt haben und gehört zum Netzwerk des vor einigen Monaten in Niedersachsen festgenommenen Salafisten-Predigers Ahmad Abdelaziz A. alias Abu Walaa. Der Mann gilt bis zu seiner Festnahme als einer der radikalsten Prediger Deutschlands – und er ist nach Angaben der Sicherheitsbehören ein wichtiger Verbindungsmann zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS).
Trotz dieser Kontakte, trotz der Einstufung als Gefährder, trotz seines Versuchs, an Waffen zu gelangen, gelingt es Amri, Anfang dieses Monats unterzutauchen. Einfach so. Wie das passieren konnte? Dazu wollen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden sich am Mittwoch nicht einmal hinter vorgehaltener Hand äußern.
Polnische Lkw-Fahrer war wohl während des Anschlags noch am Leben
Keine völlig sicheren, aber doch belastbare Vermutungen gibt es dagegen zur Frage, was unmittelbar vor und während der Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz geschah. Denn das Ergebnis der Obduktion des in der Fahrerkabine tot aufgefundenen Fahrers der polnischen Speditionsfirma liegt vor. Es legt nahe, dass der Mann, dessen Fahrzeug bereits am Montagnachmittag am Friedrich-Krause-Ufer in Moabit gekapert wurde, während des Anschlags noch am Leben war. Die Ermittler gehen daher nun davon aus, dass der Attentäter, mutmaßlich Anis Amri, den polnischen Fahrer beim Kapern des Fahrzeugs mit einem Messer außer Gefecht setzte, dieser aber noch lebte. Während der Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz könnte es dann zu einem Kampf und schließlich dem tödlichen Schuss auf den Polen gekommen sein. Das würde erklären, warum der Lkw bereits nach rund 60 Metern zum Stehen kam. Ohne den Einsatz des Polen, so die Vermutung, hätte es also deutlich mehr Tote gegeben.
Anis Amri ist nun der meist gesuchte Mann Europas. Der Mann, der wohl für den bisher folgenschwersten islamistischen Terroranschlag in Deutschland verantwortlich ist. Der Mann, der aus dem Todes-Lkw geflüchtet sein soll und der Generalbundesanwalt 100.000 Euro Belohnung für Hinweise ausgesetzt hat, die zu dessen Ergreifung führen.
Ausweis-Dokument könnte auch eine "falsche Fährte" sein
Er könnte bald gefasst sein. Oder er bleibt in einem sicheren Versteck. Oder es gelingt ihm, Europa unbemerkt zu verlassen. Oder: Es war doch ein ganz anderer. Denn hundertprozentig sicher, dass sie diesmal den richtigen Tatverdächtigen im Fokus haben, können sich die Ermittler nicht sein. Das bestätigt am Mittwochnachmittag auch der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). Tatsächlich könnte das Ausweis-Dokument mit dem Namen Anis Amri auch gefälscht sein – oder womöglich von einer anderen Person als „falsche Fährte“ in der Fahrerkabine hinterlassen worden sein. Spekulationen. Es gibt sie inner- und außerhalb der Behörden an diesem Mittwoch zuhauf. Einschätzungen und Bestätigungen von offizieller Seite nur wenige.
Der Mann kann noch immer bewaffnet sein
Ohnehin wirft die Öffentlichkeitsarbeit der Behörden Fragen auf. Am Dienstag bemühen sich die Offiziellen erkennbar, keine Panik zu verbreiten und erwähnen erst auf Nachfrage, dass der flüchtige Täter eine Schusswaffe mit sich führen könnte. Dann heißt es im Fahndungsaufruf des Generalbundesanwaltes über Anis Amri: „Vorsicht: Er könnte gewalttätig und bewaffnet sein!“