Aktionstag Berlin erhören

„Wir wollen uns Gehör verschaffen!“

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Petra Götze
Andrea Mattern (2.v.l. vorn) und ihre Mitstreiter vom Schwerhörigen-Verein Berlin.

Andrea Mattern (2.v.l. vorn) und ihre Mitstreiter vom Schwerhörigen-Verein Berlin.

Foto: Maurizio Gambarini / FUNKE Foto Services

Der Schwerhörigen-Verein Berlin lädt am 18. September 2021 zum Aktionstag in die St. Lukas-Kirche in Kreuzberg ein

Berlin. In gelten 14 Millionen Menschen als hörbeeinträchtigt, die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Davon sind etwa eine Million Menschen hochgradig oder an Taubheit grenzend schwerhörig. „Es ist eine Behinderung, die man nicht sieht. Wenn ich auf ein Amt gehe, spreche ich mit der Mitarbeiterin ganz normal, kann aber nicht verstehen, was sie mir antwortet“, sagt Andrea Mattern.

14 Millionen Schwerhörige in Deutschland

Im Alter von 30 Jahren ist sie ohne erkennbare Ursache ertaubt. Seit 2017 engagiert sie sich im Schwerhörigen-Verein Berlin und wirbt mit anderen Betroffenen um mehr Verständnis für Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung. „Bis dahin habe ich mich allein durchgeschlagen“, sagt die heute 63-jährige, die im Rechnungswesen eines kleinen Verbandes arbeitet.

Gebärdensprache für Schwerhörige nicht geeignet

Im Unterschied zu Gehörlosen, von denen es in Deutschland etwa 80.000 gibt, sind Schwerhörige auf das Verstehen von Sprache angewiesen. „Deshalb hilft auch die Gebärdensprache nicht weiter. Wer ein Hörgerät oder Implantat trägt muss die Lautsprache verstehen“, erklärt Vereinsmitglied Uta Dörfer, die als Gehörlosen-Lehrerin an der Margarethe-von-Witzleben-Schule begleitende Lautsprache unterrichtet hat. „Das sind unterstützende Gesten beim Sprechen. Dazu habe ich Abseh-Kurse gegeben. Dabei muss man sich sehr auf die Mimik und die Mundbewegungen des Sprechenden konzentrieren“, sagt Uta Dörfer.

Der Schwerhörigen-Verein setzt sich seit 120 Jahren für Hörbehinderte ein, seine Gründung geht zurück auf Margarethe von Witzleben (1853-1917). Die Tochter eines preußischen Kammerherrn wurde als junges Mädchen schwerhörig, baute trotzdem eine Haushaltsschule auf, bildete sich kontinuierlich weiter und feierte 1901 den ersten Gottesdienst für Hörbehinderte in der Berliner Tieckstraße - die Geburtsstunde der ersten Schwerhörigen-Selbsthilfe-Bewegung der Welt. Damals war die Folge von Schwerhörigkeit so gut wie immer Arbeitslosigkeit und Armut. Dazu kam oft auch die Einsamkeit und das Ausgeschlossensein vom kulturellen Leben.

Schwerhörigkeit trifft auch jüngere Menschen

„Auch heute noch führt Schwerhörigkeit oft dazu, dass sich die Menschen zurückziehen. Die Hörbehinderung wird zu einer sozialen Behinderung, besonders in der jetzigen Pandemie-Zeit“, sagt Andrea Mattern. „Durch die Masken ist die Sprache noch schwerer zu verstehen und man kann nicht vom Gesicht ablesen“, bestätigt Adolf Becker von der Margarethe-von-Witzleben-Stiftung, die wie der Schwerhörigen Verein ihren Sitz im ehemaligen Haus der Freifrau von Witzleben in der Charlottenburger Sophie-Charlotte-Straße 24a hat. Dort gibt es auch ein Zentrum für Hörberatung.

Eine Hörminderung entwickelt sich meistens langsam, schränkt aber sehr schnell das Verstehen des gesprochenen Wortes ein. Zunächst werden einzelne Sprachlaute nicht mehr wahrgenommen. Im Kopf versucht der Schwerhörige, das Nicht-Verstandene zu ergänzen und in einen sinnvollen sprachlichen Zusammenhang einzuordnen. „In größeren Gruppen oder bei Restaurantbesuchen ist das aber nicht möglich, der rote Faden im Gespräch geht verloren“, sagt Andrea Mattern.

Schlechtes Hören führt zu sozialer Isolation

Mit einem Aktionstag am 18. September 2021 will der Schwerhörigen-Verein Guthörende auf die Bedürfnisse von Schwerhörigen aufmerksam machen. „Wir wollen Gehör finden und uns mit anderen austauschen. Dazu gibt es inzwischen viele technische Hilfsmittel, wie Induktionsschleifen, die in Kultureinrichtungen aber oft fehlen oder nicht funktionieren. Und für den hohen Batterieverbrauch von Hörgeräten zum Beispiel gibt es keine Zuzahlung der Krankenkassen“, sagt Andrea Mattern. Ein gestörtes Hörvermögen bewirkt Einschränkungen im (Sprach)verstehen, die in Folge zu Traurigkeit, Depression, Angst und Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen und letztlich zu sozialer Isolation führen.

„Inzwischen gibt es auch viele junge Menschen, die durch einen Hörsturz oder ein Schalltrauma von einem Tag auf den anderen nicht mehr hören können. Das ist auch psychisch ganz schwer zu verkraften“, ergänzt Uta Dörfer.

Aktionstag am 18. September 2021

Unter dem Motto „Sprachverstehen macht stark“ lädt der Schwerhörigen-Verein Berlin e.V. mit kooperativer Unterstützung der Margarethe von Witzleben Gemeinschaftsstiftung, der Kopf, Hand, Fuss gGmbH und der Gehörlosen- und Schwerhörigenseelsorge der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zum Aktionstag am 18. September 2021 in die St. Lukas Kirche in der Bernburger Str. 3-5 in Kreuzberg ein (nahe Anhalter Bahnhof). Von 10 bis 17 Uhr gibt es Experten-Vorträge zur Hörminderung, Hörgeräten und Implantaten und zum Thema Hörsturz. Es stehen induktive Hörunterstützung als auch Schrift und Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung. Für Speisen und Getränke ist gesorgt. Der Schwerhörigen-Verein bittet um Anmeldung per E-Mail an: events@schwerhoerige-berlin.de