Berlin. Projektitis, so nennt Özden Sezgin das altbekannte Paradox seines Sektors, das ihm zurzeit tagtäglich Kopfzerbrechen bereitet. „Sobald du es geschafft hast, ein soziales Projekt erfolgreich zu etablieren und somit seine Wirksamkeit quasi nachzuweisen, wird es nicht mehr gefördert“, sagt er. „In der Projektarbeit muss ein Vorhaben immer neu sein, wenn es sich neu für einen Fördertopf bewirbt.“
Die Konsequenz daraus: Im Juli 2021 hat Sezgins erfolgreiches und beliebtes Mentorenprogramm „Education Point“ bereits die höchste Förderstufe erreicht, die Finanzierung läuft danach automatisch aus. Wie oder ob es fortgesetzt werden kann, ist unklar. Es geht um Arbeitsplätze, Verwaltungskosten, Raummiete und letztlich auch um die Aufwandsentschädigungen für die Ehrenämtler.
Education Point: Projekt sucht Nachfolgefinanzierung
Für den Kiez in der Spandauer Neustadt würde das Aus von „Education Point“ einen großen Verlust bedeuten. Seit 2013 hat das soziale Projekt Spandauer Grundschüler aus schwierigen Verhältnissen mit Mentoren zusammengebracht, die ihnen helfen sollten, ihren Weg zu finden, sich nachmittags um sie kümmerten und sie in ihrer Bildungsentwicklung unterstützten und bestärkten.
„Ich telefoniere jeden Tag mit Stiftungen, Verwaltungen und Behörden und versuche, eine andere Art der Nachfolgefinanzierung - egal in welcher Höhe - sicher zu stellen“, sagt Sezgin. „Irgendwie versuche ich damit auch, mein ganz persönliches Baby zu retten.“ Dass sie in jedem Fall Abstriche von dem machen müssten, was sie bisher leisten konnten, müsse er aber hinnehmen.
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Education Point: Tridems sorgen für Persönlichkeitsentwicklung
Sezgin meint, was er sagt, die Projektarbeit liegt ihm spürbar am Herzen. Als Mitgründer von „Education Point“ hat er seit 2013 dazu beigetragen, die Initiative aufzubauen und bekannt zu machen. Seit Sommer 2018 wurde sie auch aufgrund seiner Bemühungen schließlich in das Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung aufgenommen, 2020 sogar vom Bundesministerium für Familie ausgezeichnet.
Das Besondere bei „Education Point“ ist, dass ein Mentor – meist ein Student – und zwei Schüler ein Schuljahr lang ein sogenanntes Tridem bilden. Die Kinder aus den Klassenstufen vier bis sechs sollen so nicht nur von ihrem Mentoren, sondern auch voneinander lernen.
„Es geht um Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit und Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Sezgin. Ob die gemeinsame Zeit dabei mit Lesen, Nachhilfe, Sport, Sprachbildung, Ausflügen oder der Stärkung der Social Skills verbracht wird, liegt ganz beim Tridem und dessen Bedürfnissen.
Corona-Pandemie erschwert Projektarbeit
Mittlerweile machen 60 Kinder und 30 Mentoren bei „Education Point“ mit, vier Grundschulen werden betreut. Und das, obwohl Corona die Arbeit des Projekts - wie überall in Berlin - zuletzt extrem behinderte. „Unser ganzes letztes Förderjahr war durch die Pandemie stark eingeschränkt“, sagt Sezgin. Man habe zwar versucht, so viel wie möglich durch digitale Meetings zu ersetzen, aber vielen der betreuten Familien mangele es eben an den nötigen Endgeräten und der Privatsphäre in den eigenen vier Wänden.
„Deswegen haben wir immer sofort alle Obergrenzen für Treffen ausgenutzt, die erlaubt waren“, sagt Sezgin, „die Kinder und Mentoren waren jedes Mal sehr froh, sich wieder einmal sehen zu können, unter welchen Umständen auch immer.“
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Projekt ist eine Stütze auch für Eltern
Das bestätigt auch der 23-jährige Mentor und Student der Sonderpädagogik Heinar. Zusammen mit dem elfjährigen Nabil und dem zwölfjährigen Julian bildet er seit Oktober 2020 ein Tridem, im Corona-Winter unter erschwerten Bedingungen. „Es ist ein sehr wichtiges Angebot, was da für Eltern wegbricht“, sagt Heinar, „gerade Eltern mit vielen Kindern im Schulalter ist Education Point eine nicht zu unterschätzende Stütze.“
Nabil habe er etwa auch als die Schulen geschlossen hatten bei den Mathematikaufgaben geholfen.„Dadurch habe ich auch für mein Studium sehr viel mitgenommen, gerade was das individualisierte Beibringen und Lernen angeht“, so Heinar.
Das sei ohnehin das Tolle an dem Projekt, dass sich verschiedene Altersklassen auf Augenhöhe begegnen und nur das machen, was sie brauchen und ihnen Spaß mache. „Meine Eltern sind froh, dass ich so auch einmal rauskomme“, sagt Nabil. „Ich werde das alles hier sehr vermissen.“
Schulen sehen positive Ergebnisse
Es sind Aussagen, wie sie Özden Sezgin viele hört: „Eltern bedanken sich auf der Straße bei mir, dass ihre Kinder mitmachen durften. Einige unserer Ersten machen mittlerweile Abitur, erinnern sich gerne an ihre Zeit hier zurück und treffen sich noch immer mit ihren Mentoren von damals.“
Auch die betreuten Schulen, einige von ihnen sind immerhin seit acht Jahren mit an Bord, sind traurig. „Sie sehen die positiven Ergebnisse des Programms ja unmittelbar“, sagt Sezgin. „Und sie haben uns auch bereits ein Unterstützungsschreiben ausgestellt, das wir nutzen können, um uns für eine Nachförderung zu bewerben.“
Nutzen wird es wohl nichts: „Die Interventionsstrategie des Programms Soziale Stadt ist grundsätzlich zeitlich begrenzt. Grundgedanke des Programms ist es, mit einer Anschubfinanzierung nachhaltige Strukturen zu schaffen und Kooperationen zu fördern“, sagt Katrin Dietl, Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.
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Hoffen auf Bildungssenatorin Scheeres
Das stößt gerade aufgrund der Pandemie auf Kritik. „Ich verstehe nicht, warum Hilfspakete immer nur blind auf Zeit geschnürt werden, besonders wenn sich durch sie etwas bewährt und positive Ergebnisse gezeigt hat“, sagt etwa Stefan Meisel, Projektpate von „Education Point“ bei der Spandauer Schulaufsicht Grundschulen.
Gerade soziale Projekte in der Kinder- und Jugendarbeit hätten in der Corona-Pandemie genug gelitten, eine solche Ressource in dieser Zeit zu verlieren sei geradezu unfair. „Eigentlich müsste man viel eher daran interessiert sein, etwas, was so gut funktioniert, am Laufen zu halten“, so Meisel.
Optimistisch ist der Schulleiter aber trotzdem. Er hofft nun auf Mittel aus dem angekündigten Aufholprogramm „Stark trotz Corona“ von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD): 64 Millionen Euro soll es hier zusätzlich für Kinder und Jugendliche geben, um die durch die Corona-Pandemie verursachten Lernrückstände von Schülerinnen und Schülern abzubauen und die Kinder und Jugendlichen gleichzeitig psychosozial zu stärken. Alles Punkte, die „Education Point“ laut Meisel erfüllt.
„Wie auch immer wir uns in Zukunft als Projekt umstellen und erneuern müssen“, sagt Özden Sezgin: „Ich hoffe einfach für unsere Mentoren und Kinder, dass es irgendwie weiter gehen kann.“
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