Spitzweg ist misstrauisch. Er steht da wie angewurzelt. Der Wind fegt über das flache, karge Land der Döberitzer Heide und trägt die Worte von Sonja Fiolka über einige Hundert Meter hinweg zu Spitzweg. „Komm doch Herzilein, Süßer, na komm”, fleht sie ihn an. Der erhebt sein mächtiges Haupt, lässt sich bitten. Dann gibt er das Kommando. Die Erde unter den Füßen beginnt zu beben: Angeführt von Spitzweg, setzt sich eine Horde Wisente in Bewegung. Die Besucher des Wildnis-Schaugeheges in Sielmanns Naturlandschaft gehen hinter dem Zaun instinktiv etwas zurück. „Für Möhren tun die Wisente doch alles“, triumphiert Sonja Fiolka.
Ein Hammel als Rasenmäher
Die gelernte Pferdepflegerin lebt für die Tiere. Nicht nur für die Wisente, Pferde und Schafe in der Döberitzer Heide. Auch für ihre Tiere zu Hause, die sie aufgenommen hat, weil sie keiner mehr haben wollte. Mit mehreren Hunden, Wellensittichen, Fischen und einem Königspython ist die gebürtige Hessin vor acht Jahren von Spandau nach Falkensee gezogen. „Das war eine gute Entscheidung“, sagt sie. In Berlin habe es wegen der Hunde ständig Ärger mit den Nachbarn gegeben.
In Falkensee hat sie ein Haus mit 1200 Quadratmetern Land gemietet. Jetzt überlegt sie, ob sie sich nicht noch einen Hammel als Rasenmäher anschaffen sollte. Für die Nachbarn ist das kein Problem. Supernett seien die, alte Falkenseer, die sie auch mal mit dem Auto mitnehmen, erzählt die 49-Jährige. Weggehen – nie wieder. „In Falkensee bleibt man.“
Das Gefühl hat auch Corinna Langer. Nach Stationen in Reinickendorf und Rudow wollte sie mit Mann und Kindern raus aus der Stadt. Am Neuen See fanden sie ein Haus. Zunächst zur Miete. „Ich wollte unabhängig bleiben”, erzählt die 42-Jährige. Dann bekam ihr Mann aber ein Jobangebot in Wien. Eine Woche verbrachte die Familie dort zum „Probewohnen“. Die Kinder Richard und Christine suchten vergeblich die Bäume, die Mutter vergeblich ein angemessenes Wohnquartier. Schließlich schlug ihr Mann den Job in Wien aus. Jetzt bauen sie in den „Falkenhagener Alpen“ ein Haus am Hang.
Es gibt viele Gründe, ins Havelland, nach Falkensee oder Dallgow-Döberitz, zu ziehen. Unbeschwert lebe es sich, sagt Detlef Gieseler, Chef der Havellandhalle in Seeburg, einem Ortsteil von Dallgow-Döberitz. Auch Kolja Kleeberg, Küchenchef vom „Vau“ am Gendarmenmarkt, hat das ländliche Lebensgefühl überzeugt, seine Charlottenburger Altbauwohnung aufzugeben und mit Frau und zwei Söhnen nach Seeburg zu ziehen. Corinna Langer nennt es „überschaubar“. Aber egal, wen man fragt, einen Satz wird man immer hören: „Ich wohne in der Natur und bin in 15 Minuten in Berlin.“
Das ist wohl auch der Grund, warum sich Falkensee – einst Mauerblümchen – zum „goldenen Westen von Berlin“ gemausert hat, wie es Bürgermeister Heiko Müller (SPD) ausdrückt. Er hat nicht viel Zeit, eine Neueröffnung wartet. Deshalb spult er die Zahlen, von denen er weiß, dass sie beeindrucken, routiniert ab: 40000 Einwohner, doppelt so viel wie vor knapp 20 Jahren, 25Prozent Alteingesessene, der Rest Zuzügler aus Berlin (50 Prozent) und dem Bundesgebiet, 8000 Kinder, 2400 mittelständische Unternehmen, 6,5 Prozent Arbeitslosigkeit, 270 Kilometer Straßennetz, davon 100 Kilometer Sandpisten.
Mehr Platz in der neuen Kirche
Die Quote der Rückübertragungen von Grundstücken und Häusern nach der Wende: 80 Prozent. Untypische Herausforderungen ergäben sich aus diesen Fakten für Falkensee, sagt Müller, der das Wort „Speckgürtel“ nicht hören kann, weil es so klinge, als ob alles im Selbstlauf geschehe. Die Stadt braucht mehr Schulen, mehr Kirchen, neue Sportanlagen. Vieles ist schon angeschoben, anderes geplant. Im August 2009 eröffnet ein neues Gymnasium. Das wird den Druck auf die Auswahl der Schüler nehmen. Auch die Mitglieder der Heilig-Geist-Gemeinde haben seit April mehr Platz in ihrer neuen Kirche. Im nächsten Jahr soll der erste Spatenstich für ein neues Gemeindezentrum der katholischen St.-Konrad-Gemeinde folgen. Und an der Rosenstraße ist ein großer Sportpark mit Fußballstadion, Trainingsplatz, Volleyball- und Basketballplätzen geplant. Baustart ebenfalls im kommenden Jahr.
Problematischer ist die Lösung des Verkehrsproblems. Mit nur einer Straße sei der Durchgangsverkehr nicht mehr zu bewältigen, sagt der Bürgermeister. Die Pläne für eine Entlastungsstraße – die sogenannte Nordumfahrung – sind umstritten. Wer den Wald vor der Haustür künftig gegen die Straße eintauschen muss, ist dagegen. Wer Entlastung bekommt, dafür. Werfe man Pro und Contra in eine Waagschale, so Müller, falle die Entscheidung zugunsten der Straße aus. „Wir brauchen die Umfahrung“, schlussfolgert er. Am Neuen See zeigt Corinna Langer, wo die neue Straße einmal entlangführen soll. Mitten durch die Natur. „Das tut weh“, sagt sie. Obwohl ihr neues Haus nicht betroffen sein wird.
"Irgendwann sind wir alle mal zugezogen“
Bei Themen wie der Nordumfahrung, aber auch bei Schulsorgen und Bauvorhaben, sitzen Alt- und Neufalkenseer längst an einem Tisch. „Irgendwann sind wir ja alle mal zugezogen“, sagt Gabriele Helbig, gebürtige Falkenseerin und Leiterin des Heimatmuseums. Das habe vor 100 Jahren mit der Parzellierung begonnen und sich immer fortgesetzt. Sie sieht in der „Durchmischung“ ein Potenzial, eine Kraft, um die Stadt voranzubringen. Für junge Leute ist der Ort längst zur Heimat geworden. „Ich habe hier meine Wurzeln, meine Freunde“, sagt Sabrina Schmidt. Klar würde sie auch nach Potsdam oder Berlin fahren, um auszugehen, meint die 19-Jährige. In Falkensee aber warten andere Freizeitvergnügen: Grillen und Baden im Sommer, Schlittschuhlaufen im Winter. Zum Sport fahren viele in die Havellandhalle. Zum Ausflug in die Döberitzer Heide.
Dort steht Spitzweg malerisch in der Landschaft und lauert. Die Möhren sind alle, jetzt will er Nachschub. Seinen Namen verdankt er der Zuchtfolge. Er hätte auch Spinner oder Spatz heißen können. „Hauptsache der Name fängt mit ‚sp' an“, erklärt Sonja Fiolka und erzählt lachend, wie sie kürzlich einen Namen mit „dö“ finden mussten. Der Rundgang durch das Schaugehege endet bei schwarzbraunen Schafen. „Sind die nicht hübsch?“, fragt sie. Am liebsten würde sie alle mit nach Hause nehmen. Platz genug hat sie ja.
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