Reinickendorf war nie reich oder bedeutend, und das ist es auch heute nicht. Doch hier zählt das Miteinander. Die Menschen sind herzlich und hilfsbereit. Das wollen sie bewahren – und wehren sich gegen Unruhestifter und Konsumtempel.
Für den hochnäsigen Hauptstädter aus einem der schicken Innenstadtviertel steht Reinickendorf für eine Ortschaft irgendwo zwischen Berlin und Hamburg. Für Nicht-Berliner und Sport-Interessierte ist Reinickendorf das Zentrum des Berliner Handballs. Füchse, na klar. Nur Eingeweihte wissen, dass im Ortsteil Reinickendorf das wahre Berlin pocht. Im Kleine-Leute-Kiez rund um die Residenzstraße gibt es das einfache, das hilfsbereite, das gerade, harte, herzliche Berlin.
Früher, als Reinickendorf noch eine Bauernsiedlung war, führte die Residenzstraße geradewegs zum Stadtschloss. Seither ist die City kaum näher gerückt. Reinickendorf ist sich selbst genug, garantiert frei von Promis und Schickis. Die Trend-Berliner kennen Reinickendorf bestenfalls aus dem Flugzeug; von oben fügen die Mietskasernen aller Epochen sich zu einem städtebaulichen Mosaik. Jeder Block eine Burg. Manche Jets donnern im Anflug auf Tegel derart dicht über die Dächer, dass die Gläser in der rustikalen Schrankwand klirren.
Ein Café als Hort des Wir-Gefühls
„Wir sind hier die Stiefkinder“, sagt fröhlich Silvia Cetin (48), gelernte Reinickendorferin und Hüterin des Wir-Gefühls. Schon früher, als Hausmeisterin, hat sie reservierte Bewohner zusammengebracht, mit Partykeller und Faschingsfete. Heute betreibt die Ureinwohnerin das „Café am Schäfersee“. Mittagessen gibt es für drei Euro und den selbst gebackenen Kuchen in verschieden großen Stücken, weil manche Gäste mit der Normschnitte nicht satt zu bekommen sind. „Ick kenn ja meine Pappenheimer“, sagt Silvia Cetin.
Die Terrasse bietet einen feriengleichen Ausblick über den kleinen See mit seinen kontrolliert verwucherten Ufern. Aber Reinickendorf ist keine Ausflugsgegend. „Hier musste kämpfen“, sagt Silvia Cetin, „und das machen wir immer – bis sich was ändert.“
Die Reinickendorfer Widerstandstradition ist lang: Schon 1738 rebellierten die Bauern hier, angeführt von Jakob Bruselberg und Hans-Jürgen Hausotter, gegen die Frondienste. Zur Nazi-Zeit traf sich konspirativ der antifaschistische Newton-Bund.
Der Wedding schwappt rüber
Reinickendorfer lassen sich nichts gefallen. Deswegen müssen die örtlichen Würdenträger zum Bürgergespräch im Café antreten, wenn Frau Cetin eindringlich darum bittet. Demnächst kommt wieder die Polizei, schon zum vierten Mal. Seit zwei Polizeiabschnitte aufgegeben wurden, sorgt man sich im Kiez um die Sicherheit, Ur-Berliner ebenso wie Zuwanderer. Integration war nie ein Problem, sondern tägliche Praxis. Doch jetzt schwappe der Wedding rüber, hat die Wirtin beobachtet; es kommen Leute ins Viertel, denen jedes Gefühl für die gewachsene Kultur des Miteinanders fehlt. „Dabei ist der Zusammenhalt doch das Wichtigste, was wir haben.“
Viele ihrer Gäste kennt die Chefin seit Jahrzehnten. Früher hat sie die Mini-Fußballer der Füchse trainiert. Heute feiern die Jungs Hochzeit bei ihr. Das „Café am Schäfersee“, früher die Behausung des Parkwächters, dient als Pausenhof, Festsaal und Geburtstagstisch, aber auch als Nachrichten- und Hilfsposten. Senioren holen Prospekte, Schulklassen melden sich zum Weihnachtsbasar an, um die Klassenkasse aufzufüllen. Und immer mehr Kinder kommen, weil sie Hunger haben: „Ne Stulle und ’n Appel hab ick immer da“, sagt Silvia Cetin. Millionärin werde sie so bestimmt nicht, „aber dieser Kiez lässt keinen allein“.
Miteinander, oft beschworen und selten praktiziert, war in Reinickendorf nie Folklore, sondern immer Notwendigkeit. Denn der Ortsteil konnte sich stets nur auf eines verlassen: Wenn Berlin etwas zu verteilen hatte, kam es hier garantiert erst ganz zum Schluss an.
Im Heimatmuseum gibt es nicht viel zu sehen
Erstmals wurde das Dorf zwischen Sumpf und Sand 1375 im Landbuch von Kaiser Karl IV. erwähnt. Dann machten sich die Ritter Gebhard von Alvensleben und Hempke von Knesebeck hier breit. Reinickendorf wurde seit je herumgeschubst, im Dreißigjährigen Krieg mehrfach verpfändet, 1710 von Berlin zurückgekauft. 1852 endlich erwarben sich die Bürger die Freiheit. Reich war Reinickendorf nie, bedeutend auch nicht, aber überlebensschlau. Nun gut: Wilhelm von Humboldt kam nur bis Tegel, allenfalls der schmucklose Backsteinklotz der Staatlichen Münze verleiht dem Viertel Wucht.
Das Heimatmuseum von Reinickendorf liegt in Hermsdorf. „Da gibt es nicht ganz so viel“, sagt Herr Gerhardt aus der Bibliothek zum Thema Historie und weist auf ein schmales Regal: eine Festschrift vom Männerchor Edelweiß, Dokumentationen über die Eisfabrik Mudrack und das Humboldtbad. Aktuellster Fund: Die Geschichts-AG der Bertha-von-Suttner-Oberschule hat 1987 Material für die Ausstellung „Reinickendorf gestern und heute“ gesammelt.
Eine Siedlung als Welterbe
Mochte die Geschichte auch einen Bogen um Reinickendorf machen, so hat sie sich doch sichtbar abgelagert. Wie die Sedimentschichten auf dem Meeresboden liegen hier Stile und Epochen neben- und übereinander. Da taucht hinter einer wuchtigen Palisade aus Wohnblöcken plötzlich der Straßenzug Alt-Reinickendorf auf, der frühere Dorfanger mit Kirche und Kopfsteinpflaster. Ringsherum erstrecken sich Wohnblocks, die mit der Industrie über das Bauerndorf kamen und als großer Fortschritt galten: Die Wohnungen waren bezahlbar, gesund und luxuriös, mit fließendem Wasser und Heizung. Höhepunkt des Wohnungsbaus war die Weiße Stadt, von 1929 bis 1931 erbaut, heute Weltkulturerbe. Fantastische 15 Millionen Mark wurden für 2100 Wohnungen investiert, im Stil der Neuen Sachlichkeit angelegt, mit großen, glatten Flächen, weiß und schnörkellos, wie die Reinickendorfer eben.
Kam der Fortschritt auch gelegentlich hier vorbei; der Reinickendorfer weiß dennoch, dass er sich selbst zu helfen hat. So wie die Kaufleute der Residenzstraße. Seit Jahren stehen sie tapfer zusammen für ihren Boulevard, der schon deswegen so reizvoll ist, weil hier noch kein Klotz mit Dutzenden der immer gleichen Geschäfte hingedonnert wurde. Dafür Feste, Aktionen, Weihnachtsmarkt und eine Frau immer mittendrin: Silvia Cetin. „Hier isset nich’ so schick wie am Kudamm, aber dafür von Herzen.“