Die Architekten der Weißen Stadt bewiesen vor achtzig Jahren, dass sozialer Wohnungsbau kein Elendsquartier schaffen muss. Als die Einwohnerzahl Reinickendorfs sich verfünfachte, mussten sich fünf Personen eine Einzimmerwohnung teilen. Eine neue Siedlung wurde gebaut – heute ist sie Weltkulturerbe.
Reinickendorf platzte Anfang des 20. Jahrhunderts aus allen Nähten. Die neu entstandenen Industriegebiete mit den Argus-Werken an der Flottenstraße, der Maschinenfabrik und Eisengießerei Carl Schönig an der Kopenhagener Straße und der Eisenkonstruktionswerkstätte Gossen sorgten für einen gewaltigen Anstieg der Bevölkerung. Die neue Reichsstraße 96 auf der Residenzstraße und Roedernallee verband die Landgemeinden mit der Stadt. Zwischen 1885 und 1910 verfünffachte sich die Zahl der Einwohner im heutigen Ortsteil auf 36.000. Der Wohnungsbau konnte nicht Schritt halten.
In Berlin fehlten mehr als 100.000 Wohnungen. Viele Arbeiter lebten mit ihren Familien in Notwohngemeinschaften. Wohnungen waren überbelegt, obwohl eine Einzimmerwohnung erst als überbelegt galt, wenn mehr als fünf Personen darin wohnten.
Nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich die Lage in Reinickendorf, und die Kommune sah sich gezwungen, großflächige Gebiete südlich der alten Dorfaue, östlich und westlich der Aroser Allee zu erwerben, um sie durch die stadteigene „Gemeinnützige Heimstättengesellschaft Primus b. m. H.“ bebauen zu lassen. Die entschied sich für moderne und bezahlbare Wohnungen auf hohem architektonischem Niveau.
Stadtbaurat Martin Wagner, der auch die Hufeisensiedlung in Britz, die Waldsiedlung „Onkel Toms Hütte“ und Siemensstadt verantwortete, begann 1928 die Großsiedlung Schillerpromenade zu errichten, mit Mitteln aus einem Sonderetat des Magistrats von Berlin.
Auf einer Gesamtfläche von 14,3 Hektar entstanden nach den Plänen der Architekten Otto Rudolf Salvisberg, Wilhelm Brüning und Bruno Ahrends Drei- bis Fünfgeschosser mit 1268 Wohnungen (1 bis 3,5 Zimmer), deren Wohnfläche im Schnitt 50 Quadratmeter beträgt.
Die Siedlung spiegelt die sozialreformerischen Anstrengungen der Weimarer Republik wider: Loggia, Bad, WC und Fernwärme boten einen für die damalige Zeit einmaligen Komfort zu kleinen Preisen. Einzigartig war auch die Infrastruktur mit eigenem Fernheizwerk, zwei Gemeinschaftswaschküchen, Kinderheim, Apotheke, einer Arztpraxis und 24 Läden sowie großen Garten- und Freiflächen. Die Fassaden der im Stil der Neuen Sachlichkeit entworfenen Siedlung sind komplett weiß verputzt. Im Volksmund heißt das Viertel deshalb „Weiße Stadt“. Markenzeichen ist das Brückenhaus, das die Aroser Allee überspannt. Die Unesco ernannte die Weiße Stadt im Juli 2008 als eine von sechs Siedlungen der Moderne zum Weltkulturerbe.
sum