Marienfelde hat noch ländliche Züge. Es gibt sogar noch Bauern – drei. Aus Mariendorf sind sie längst verschwunden. Im Nachbarortsteil ist es bereits deutlich urbaner, von großstädtischer Kultur allderdings keine Spur. Kein Kino. Kein Theater. Dafür spielt die Kirche eine wichtige Rolle im Mariendorfer Leben.

Jürgen Juhnke gehört zu einer aussterbenden Spezies: Er ist einer, der sich auskennt. Auf so ziemlich jede Frage weiß er eine Antwort. Jürgen Juhnke ist der Kümmerer von Marienfelde. Was kann man gegen Füchse im Garten machen? Warum brennt eine Straßenlaterne tagsüber? Warum gibt es keine rollstuhlgerechten Fahrwege? Juhnke holt Informationen ein, berät, stellt Telefonnummern ins Internet ( www.berlin-marienfelde.de ), er kümmert sich eben.

Zurzeit protestiert er. Gegen eine große Spielhalle, die nahe dem S-Bahnhof Buckower Chaussee entstehen soll. Der Kümmerer trägt seinen Protest auf einem Button am Mantel, er verteilt Flyer. 3700 Unterschriften sind schon gegen die Spielhalle zusammengekommen. Als in Marienfelde eine Minigolfanlage verschwinden und ein Discounter auf dem Grundstück gebaut werden sollte, machte Juhnke das Ganze öffentlich. Der Minigolfplatz blieb. „Mitmischen beim Einmischen“, will der frühere Online-Redakteur und Werbetexter.

Noch drei Bauern in Marienfelde

Es scheint, als hätten sie in Marienfelde auf so einen gewartet wie Juhnke, der erst vor drei Jahren von Frankfurt am Main hierher gezogen ist. In der „Alten Dorfaue“ merkt man, was die Marienfelder Gefühlswelt umtreibt: Wie das Alte bewahren, wie dem Neuen begegnen? Auf der einen Seite altes Landleben, auf der anderen moderner Industriestandort, etwa mit IBM.

Wie Villen mit schönen Jugendstilfassaden und schnörkellose Hochhäuser, etwa am Tirschenreuther Ring, zusammenbringen? Einer der Alten ist Ernst Wiese. Und einer von noch drei Bauern in Marienfelde. Im Dorfkern, an der alten Kirche, schaut der schmächtige Mann mit dem kantigen Gesicht auf ein verwittertes Kreuz. Hier liegt einer seiner Vorfahren begraben. Die Wieses gibt es seit 400 Jahren in Marienfelde, nun wird der Futterrübenhersteller Ernst Wiese der letzte Bauer seiner Familie sein. Auch einige seiner Nachbarn waren Bauern oder haben ihre Eltern und Großeltern bei der Landwirtschaft erlebt.

Das Alte bewahren … Wer einen der schönsten Momente in Marienfelde erleben will, sollte sich sonntags um zwölf Uhr vor die alte Dorfkirche stellen. Das himmlische Läuten der Glocke, kein Autolärm, der Blick über den grünen Anger, die alten Häuser – mit einem Mal fühlt man sich der Großstadt so fern.

Notaufnahmelager schließt bald

Schräg gegenüber der Kirche wird gerade die alte Feuerwache renoviert. Marienfelder wie Jürgen Geisler haben sich dafür eingesetzt, ihm geht es darum, den „dörflichen Charakter am Rande der Großstadt zu erhalten“.

Dem Neuen begegnen … Knapp einen Kilometer weiter nördlich ist die Welt eine völlig andere. An der Marienfelder Allee steht wie eine Fünfzigerjahre-Trutzburg das ehemalige Notaufnahmelager. Jahrzehntelang war es erste Anlaufstation für DDR-Flüchtlinge, das kleine Marienfelde für viele aus dem Osten die erste Begegnung mit dem Westen. Nach dem Fall der Mauer war die Einrichtung eigentlich überflüssig, es blieb aber Aufnahmestelle für Spätaussiedler aus Russland, Kasachstan oder Usbekistan. Jetzt ziehen die Letzten aus, das Gebäude wird geschlossen und soll besenrein an den Bund übergeben werden. Was kommt, ist unbestimmt.

Rund um das Gebäude sind einige der Aussiedler geblieben. Ein russischer Supermarkt hat eröffnet, ein russisches Reisebüro. Noch sind die Charaktere hier allerdings nicht verschmolzen, die Marienfelder stehen dem russischen Flair bisher reserviert gegenüber.

Wieder einen Kilometer nördlich steht das Dorf nur noch auf dem Papier. Die Mariendorfer Dorfkirche hat im Gegensatz zur Marienfelder den ländlichen Charme eingebüßt. Trotzig stemmt sie sich dem tosenden Straßenverkehr am Mariendorfer Damm entgegen. Man merkt es gleich: Hier beginnt die Vorstadt. Doch es ist eigenartig: Kommt man aus Tempelhof oder Schöneberg, hat man den Eindruck, Mariendorf ist ländlich.

So ging es auch Elfriede und Frank Heinze, die vor 28 Jahren hierher gezogen sind. Aus Schöneberg waren sie gekommen, nur ein paar Kilometer weiter südlich stand das Zweifamilienhaus zur Besichtigung. Die Mutter sollte mit einziehen, deshalb musste nun alles ein bisschen größer werden als in der Dreizimmerwohnung an der Ettaler Straße. Wo das Haus stehen sollte, war den Heinzes eigentlich egal. Es wurde Mariendorf. Die blühenden Obstbäume hinten im Garten, „das war ein berauschender Anblick. Es war das Erste, was uns auffiel, als wir ankamen.“

Heute leben sie in dem Haus am Rätikonweg allein, die Mutter ist gestorben, die beiden Kinder haben geheiratet. Aber Anne, ihre Tochter, hat Mariendorf nie losgelassen. Vor einigen Jahren zog sie mit ihrem Mann Theo nebenan ein. Elfriede und Frank Heinze können so täglich ihre beiden Enkelkinder sehen. Drei Generationen, nicht unter einem Dach, aber nah beieinander.

Kirche in der Kulturwüste

Typisch für Mariendorf. Meint Pfarrer Andreas Rütenik von der Kirchengemeinde Mariendorf-Süd. „Die Menschen sind heimatverbunden. Die zweite Generation kauft wieder Häuser oder übernimmt die Elternhäuser.“ Rütenik steht der Gemeinde seit 15 Jahren vor. Er war, sagt er stolz, der erste Pfarrer, der aus dem Osten in den Westteil der Stadt gekommen ist.

Die Kirche spielt eine wichtige Rolle im Mariendorfer Leben. Es gibt kein Kino, kein Theater, eine Kulturwüste sozusagen. Die Lücke, gerade für die jungen Mariendorfer, will Rütenik füllen. Seine Gottesdienste sind berühmt. Jugendliche dürfen sie auch mal selbst gestalten. Dann bleibt die Orgel sonntags stumm, und es erklingt Pop-Musik, beispielsweise von der Gruppe Wir sind Helden. Auch bei den Konfirmanden hält sich Pfarrer Rütenik zurück. „Jugendliche unterrichten Jugendliche“, heißt sein kirchliches Management-Credo. Er hat Erfolg. Auf 3000 Gemeindemitglieder kommen 92 Konfirmanden. Erstaunlich in Zeiten, in denen junge Leute den Weg in die Kirche eher meiden.

Mariendorf ist sehr schnell gewachsen in den vergangenen Jahrzehnten. Der 65-jährige Frank Heinze erinnert sich noch, wie er als Junge mit seinem Vater von Tempelhof aus sonntags auf die Felder zog, um Drachen steigen zu lassen. Heute ist dort das Ankogel-Bad.

Bei allen Unterschieden – was verbindet Mariendorf und Marienfelde? Es ist der gute alte Berliner Ton. Man sagt noch „ick“ und „wat denn“. Verirrt sich ein Süddeutscher hierher, wird der gern mal belehrt, er solle doch bitte anständig sprechen. Vielleicht ist Berlin hier am berlinischsten. Schlagfertig, witzig, aber auch ziemlich konservativ. Eigentlich ganz angenehm.