Günter Grass hat Friedenau ein literarisches Denkmal gesetzt – aus der Luft. „Als Pilot hoch über den Dächern von Friedenau ... Mach ne Links-, ne Rechtskurve ... Links ist unter meinem Vielzweckmobil der Turm vom Friedenauer Rathaus, davor der Wochenmarkt zu erkennen mit der dicken Fischfrau und dem verrückten Blumenhändler, die mir beide zuwinken, und auch die Niedstraße mit unserem Klinkerhaus...“
Grass, der in den 60er- bis 90er-Jahren in Friedenau lebte, ist nicht mehr da – die Fischfrau und der Blumenhändler aus seinem Buch „Die Box“ auch nicht. Aber sein Klinkerhaus in der Niedstraße, das Rathaus und der Wochenmarkt sind geblieben – mit neuen Fisch- und Blumenhändlern und den Friedenauern von heute, die ihren Kiez zwischen Schöneberg und Steglitz lieben.
"Friedenau ist unspektakulär – im positiven Sinne“, sagt Ernst Karbe. Er ist Inhaber des Fotogeschäfts „Bilderbär“ an der Hedwigstraße. Aber eigentlich ist er der Mann, der die Bären verteilt. Ein Dutzend Teddybären, groß und klein, setzt Karbe bei gutem Wetter vor seinen Eckladen – auf parkende Autos, in eigenen Sesseln oder auf Fensterbänke.
Sonnabend ist Markttag
Vor 25 Jahren ist er von Reinickendorf nach Friedenau gezogen. Wegen der Schulen, wie er erzählt. Und so ist es bis heute: Friedenau – der unaufgeregte Familienkiez. Es gibt viele Kindergärten, diverse Schulen. Einige Spielplätze, wie der auf dem Perelsplatz, sind bei Kindern und Eltern so beliebt, dass man im Sommer an manchen Nachmittagen seinen Sprössling vor lauter Kindern nicht mehr sieht.
Der Wochenmarkt, auf dem Grass oft einkaufte, ist an Sonnabenden immer noch der Treffpunkt der Friedenauer. Nach einem Milchkaffee bei „Marcello“ kaufen sie Biokartoffeln oder Bockwürste, frisch geräucherten Fisch oder selbst gebackene Torten. Der Markt vor dem Rathaus ist dabei das, was er immer war – keine Touristen-Attraktion, sondern das kleine, gemütliche Einkaufszentrum der Anwohner.
Der Charme der Vorgärten
Dabei ist die Wohlfühlatmosphäre in dieser Wohngegend eigentlich ein Phänomen. Denn Friedenau ist begrenzt von S- und Autobahn, durchschnitten von den großen Verkehrsadern Haupt-/Rheinstraße und Bundesallee. Doch abseits der großen Straßen und Schienenwege ist Friedenau ruhig, grün und dank des hohen Altbaubestands attraktiv. Der Schauspieler Jürgen Heinrich („Wolffs Revier“) sagt zu seinem Heimat-Kiez: „Ich höre keine Autobahn, kann aber zwei Autobahnauffahrten nutzen.“
Das Antlitz von Friedenau prägen auch die ummauerten Vorgärten. Wo in anderen Stadtteilen Autos parken, blühen hier Krokusse und Flieder. Zugegeben: Dadurch fehlen Stellplätze, aber in Friedenau fährt man ohnehin viel mit dem Fahrrad. Beispielsweise direkt über die Prinzregentenstraße Richtung Kudamm und Bayerisches Viertel. Oder man radelt über die Fahrradstraße am Südwestkorso zur Domäne Dahlem. Allerdings ist der Friedenauer Fahrradfreund gut beraten, ein solides Schloss zu besitzen: Die Zahl der Fahrraddiebstähle ist überdurchschnittlich hoch, 292mal standen Friedenauer Radfahrer im vergangenen Jahr vor dem Nichts.
Wer in Friedenau lebt, genießt die kurzen Wege– nicht mitten in der City, aber nah dran. Mit der U9 ist man in zehn Minuten am Zoo, mit der S1 in 15 Minuten an der Friedrichstraße.
Die Einkaufsmeile Schlossstraße beginnt an der südlichen Ortsteilgrenze. Der Weg dorthin führt allerdings an einigen leeren Läden oder häufig wechselnden Geschäften an Haupt- und teilweise auch Rheinstraße vorbei. Der kleine Einzelhandel hat es schwer – da ist Friedenau auch nur ein Teil Berlins.
Der Ortsteil kann nicht mit großen Parkanlagen aufwarten, dennoch gehört zur guten Infrastruktur in Friedenau auch, dass die Trainingsstrecke quasi „vor der Haustür“ liegt: Die Jogger zieht es in den Volkspark Wilmersdorf und den Rudolph-Wilde-Park am Rathaus Schöneberg. Zur frühen und späten Stunde am Wochenende laufen die Sportler fast schon Kolonne durch das lang gezogene Grün.
Aus Friedenau heraus wird auch ein Markenzeichen geliefert – die Askania Uhr. In der Roennebergstraße wurde die Tradition der Fliegeruhren wieder aufgenommen. Vor 135 Jahren hatte Carl Bamberg, der bei Carl Zeiss gelernt hatte, die Firmenzentrale der Askania-Uhrenwerke an die Bundesallee verlegt und das Unternehmen dort groß gemacht. In den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde aus dem Werk eine der größten deutschen Uhrenmanufakturen. Bis zu 15000 Beschäftigte zählte die Firma. Kaum ein Flugzeug flog ohne Askania-Bordinstrumente. In den 60er-Jahren wurde das Unternehmen aufgelöst.
An dieses Legende will nun die Uhrenmanufaktur in der Roennebergstraße anknüpfen, die Anfang 2006 neu in Friedenau gegründet wurde. „Wir wollten ganz in die Nähe der alten Askania-Werke, aber nicht in das historische Gebäude“, sagt Leonhard Müller, Vorstand der heutigen Askania AG. Denn die Manufaktur, in der heute 17Mitarbeiter Armbanduhren herstellen, sollte in ein eigenes Haus. Eine kleine, feine Manufaktur, müsse auch ebenso untergebracht sein, sagt der Schweizer Müller mit einem Verweis auf sein Heimatland. Nun findet man die Askania AG in einer Remise. „Wir fühlen uns sehr wohl in Friedenau. Außerhalb der Stadtzentren, aber doch so nah dran“, sagt Müller.
Im Pyjama auf der Straße
Friedenau – das ist auch ein Leben mit Literatur, nicht nur wegen der vielen namhaften Buchhandlungen. „Da ist man ganz dicht dran an den Schriftstellern und ihren Geschichten“, sagt Gudrun Blankenburg, die Führungen durch den Stadtteil anbietet. Die Niedstraße zwischen Friedrich-Wilhelm- und Breslauer Platz ist geradezu eine Literaturmeile. Hier wohnten und arbeiteten neben Günter Grass auch Erich Kästner, Uwe Johnson und Günther Weisenborn. „Um die Ecke“ lebten Hans Magnus Enzensberger und Max Frisch. Letzterer wohnte an der Sarrazinstraße und irrte eines Nachts im Pyjama durch die Straßen von Friedenau, voller Wut nach einem Streit mit seiner Frau. Doch das ist eine andere Geschichte…