Serie "Das ist Berlin"

Der Wedding kommt, aber anders

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Florentine Anders

Wedding und Gesundbrunnen sind als Brennpunktkieze verrufen. Doch gerade hier ist Aufbruchstimmung spürbar. Manche sagen, wie in Prenzlauer Berg Anfang der 90er-Jahre. Die geschlossenen Fabriken im einstigen Arbeiterviertel werden gerade zurückerobert – von Künstlern, Modedesignern und Studenten aus dem Kiez.

Ein dunkler Gang führt auf die andere Seite. Der Gleimtunnel quert den ehemaligen Mauerstreifen. Sachlich betrachtet, verbindet er die Ortsteile Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen – tatsächlich verbindet er zwei Welten. Autos poltern über das Kopfsteinpflaster, Fußgänger sieht man kaum. Als ob sich nur wenige aus dem Wohlstandsviertel Prenzlauer Berg in den Nachbarkiez wagen, das unordentliche Hinterzimmer des Citybezirks Mitte.

„Nächste Ausfahrt Wedding“ heißt eine Initiative von Anwohnern der östlichen Gleimstraße, die sich regelmäßig aufmachen, um die andere Seite zu entdecken. „Wir waren einfach neugierig, was am anderen Ende des Gleimtunnels ist“, sagt Initiatorin Tanja Kapp. Inzwischen treffen sich bis zu 150 neugierige Leute zu den Aktionstagen am Gleimtunnel, um in „die Welt dahinter“ einzutauchen. Quirlig sei es da, sagt Tanja Kapp, experimentierfreudig und bunt. Es gebe eine Aufbruchstimmung wie vielleicht in Prenzlauer Berg vor 15 Jahren.

„Hier ist Berlin noch authentisch“

Die Weddinger sind stolz darauf und witzeln mit Vorliebe über die Prenzlberger Latte-Macchiato-Trinker. „Hier ist Berlin noch authentisch“, sagt Oliver Tautorat, der mit seinem Prime Time Theater und der Kultserie „Gutes Wedding Schlechtes Wedding“ die Kiezbewohner zu Helden macht und damit selbst zum Star geworden ist. Auf dieser Seite des Gleimtunnels ist der Kaffee noch schwarz, und die Brautkleider sind weiß. Der Döner kommt ohne Hackfleisch aus, und das Bier wird selbst gebraut. Also von gestern? Unsinn. In dem einst verrufenen Brennpunktkiez ist so gut wie alles in Bewegung.

Stadtteilmanagerin Jeanne Grabner könnte sich keinen schöneren Ort zum Arbeiten und Wohnen vorstellen. „Ich liebe die Freiräume“, sagt sie. Und auch die Menschen der verschiedenen Kulturen wissen sie zu nutzen. Mit 32 und knapp 36 Prozent haben die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen einen der höchsten Anteile an Bewohnern nicht deutscher Herkunft in ganz Berlin, etwa 40 Prozent sind auf Sozialleistungen angewiesen. Jeanne Grabner ist überzeugt, dass gerade in diesem Umstand ein großes Potenzial steckt: „Die Menschen haben viel Zeit und wenig Geld, das macht kreativ und solidarisch.“

Veränderung nicht durch Zugezogene

Und es gibt diese leeren Gebäude – Fabriken in dem einstigen Arbeiterviertel, die nach und nach geschlossen wurden. Doch jetzt erobern die Menschen ihre Fabriken zurück. Künstler und Gewerbetreibende sind in die ehemalige Rotaprint-Fabrik eingezogen, Studenten in die AEG-Fabrik (Ackerstraße), Tänzer in die Uferhallen, wo bisher BVG-Busse gewartet wurden.

„Der Wedding kommt anders“, sagt Jeanne Grabner und meint damit sowohl das Brunnenviertel als auch Wedding auf der anderen Seite der Panke. Der Slogan bedeute, dass die Veränderung hier von innen kommt und nicht durch zugezogene Neuberliner.

Zaghaft entdecken aber auch die Menschen aus den schickeren Teilen des Bezirks Mitte den Kiez der unbegrenzten Möglichkeiten. Während in Mitte Gewerberäume Mangelware oder für viele nicht bezahlbar sind, gibt es hier noch Leerstand. Die berühmte Privatschule Phorms hat Räume in der AEG-Fabrik bezogen. Auch Galerien und Designerläden stoßen immer weiter vor in das nördliche Ende der Brunnenstraße.

Mit der Veranstaltung „Wedding Dress“ will die Wohnungsgesellschaft Degewo ihre schwer zu vermietenden Läden in den Betonburgen attraktiv machen. Die Gewinner des Wettbewerbs für junge Modedesigner erhalten hier Räume ein Jahr mietfrei. Ein Atelier für Handy-Accessoires mit echten Swarovski-Edelsteinen, eines mit bizarren Deko-Fliegenpilzen aus Stoff, trashige Mode in Pink und sündhaft teure Abendkleider aus Spitze und Seide sind hier nebeneinander zu finden. Die meisten verkaufen ihre Kreationen allerdings in Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte. Noch kommen die Kunden selten in das Brunnenviertel.

Lebendiger wird es, je weiter man auf der Brunnenstraße in den Kiez vordringt. Dort, wo sie zur Badstraße wird, brodelt das Leben auf der Straße wie auf einem orientalischen Basar. Gemüsehändler bieten lautstark ihre Ware feil, auf der Straße werden Teppiche ausgebreitet, in den Schaufenstern glitzern orientalische Devotionalien gleich neben ausgefallenen afrikanischen Kunsthaarteilen.

Geht man durch die Hofeinfahrt an der Badstraße39, findet man sich indes in einer Gartenidyll wieder. Direkt am grünen Flusslauf der Panke. Hier steht das ehemalige Luisenbad. 1995 wurde das denkmalgeschützte Gebäude saniert und mit einem gläsernen Anbau versehen. Nun ist es eine Bibliothek.

„Das alte Flair kehrt zurück“

Hat man die Panke überquert, mischen sich auf der Schwedenstraße immer mehr Galerien zwischen anatolische Sportvereine oder Geschäfte für Brautkleider. Auch Martin Weiss, der weltberühmte Sinti-Jazz-Geiger, hat hier sein Atelier, gemeinsam mit seiner Frau, der Akkordeonistin Carmen Hey. Weiss, Nachfahre des legendären Sinti-Musikers Django Reinhardt, ist in Wedding aufgewachsen, kennt diesen Kiez aus dem Effeff. „Früher nannten wir das hier unser gemütliches Paris der kleinen Leute“, sagt er. Das Leben habe sich auf der Straße abgespielt, jeder kannte jeden, ganz gleich aus welcher Kultur er kam. In den 90er-Jahren sei das Viertel dann abgerutscht. Die Kleinkriminellen hätten die Straßen beherrscht. Doch das sei jetzt vorbei. „Das alte Flair kehrt zurück“, sagt er.

Er schätzt den Zusammenhalt unter den Menschen, die ihn hier nicht als Stargeiger kennen, sondern als Nachbarn. Gern trinkt er ab und zu einen Tee mit Roseline Russell, die gleich nebenan ihren Laden hat. Die Französin wohnt seit 30 Jahren in Berlin, vor zwei Jahren wollte sie zurück in ihre Heimat Montpellier. Doch die Sehnsucht nach Berlin war zu groß. „Ich mache meinen Süden in Berlin“, hat sie sich gesagt, und wo würde das besser gehen als in Wedding.

In ihrem Secondhandladen „Soleil du Sud“ verkauft sie Mode, Schuhe und Schmuck aus Frankreich. Doch die Frauen kommen nicht nur deswegen. Sie lassen sich in den kleinen Klubsesseln nieder, trinken Tee und erzählen sich die Neuigkeiten aus dem Kiez. Neues passiert hier schließlich ständig. Früher, erzählt Roseline Russell, habe sie mal in Steglitz gewohnt. Die anderen Frauen winken lachend ab: „Viel zu ruhig.“