Wandern in Berlin? Ein Selbstversuch auf den Spuren der deutschen Romantik bei 38 Grad. Die Morgenpost-Serie, Teil 35.
Ein bisschen lustig klingt der Name schon, unfreiwillig komisch: „Deutscher Alpenverein Sektion Berlin“. Die Alpen liegen – nehmen wir beispielsweise das Zillertal – rund 750 Kilometer Fahrstrecke entfernt. Und Berlin und seine Umgebung muten alles andere als alpin an. Eine der höchsten Erhebungen der Stadt ist der Teufelsberg, danach kommt bis Moskau nichts mehr. Und dieser Berg entstand nicht wie das ehrwürdige Alpenmassiv aus dem Zusammenprall zweier Kontinente, sondern pur aus Folge des menschlichen Irrsinns der NS-Zeit. Der Teufelsberg ist künstlich, ein Trümmerberg, aufgeschüttet aus den Resten des zerbombten Berlins. Ansonsten ist es hier eher flach. Was will der Alpenverein also in der Hauptstadt?
Eine Menge, das werde ich bald erfahren. Und auch, dass man eine lange Tradition „alpiner Fröhlichkeit“ in die Stadt verpflanzt hat. 1869 wurde der Berliner Alpenverein gegründet, 1899 die Sektion Mark Brandenburg. Noch heute besitzt die Sektion Berlin sechs Hütten als Übernachtungshäuser in den Alpen, wobei Hütten ein etwas irreführender Ausdruck ist; es sind prächtige große Steinhäuser hoch oben auf über 2000 sogar 3000 Metern, tief in Österreich. Mögliche Übernachtungsgäste hat man ja aus Berlin genügend: Zuletzt zählte man hier 17.486 Mitglieder, das war am Stichtag 31. Dezember 2017. Allein im letzten Jahr kamen über 1500 Mitglieder hinzu. Man könnte fast von einem kleinen Boom sprechen. Nun gilt es also herauszufinden, was die Menschen zum Alpenverein Sektion Berlin zieht. Und eine Antwort lautet: die Natur.
Wandern bei 38 Grad um den Flakensee herum
Es ist kurz vor zehn Uhr auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Erkner. Um Punkt zehn Uhr soll der Treffpunkt der Wandergruppe sein. Heutige Route: „Rund um den Flakensee“, das sind circa neun Kilometer. Wie viele kommen werden, hatte mir Wanderleiter Klaus Szczawinski schon vorher am Telefon gesagt, wisse man nie genau. „Bei den Temperaturen!“ Es ist heiß in Berlin, unfassbar heiß, wer will schon bei 38 Grad an Berlin östlichstem Rand wandern gehen? „Und unsere Mitglieder sind eher älter“, meinte Szczawinski noch beim Telefonat.
Die sogenannte Wandergruppe gibt es schon seit 1951, sie wurde zu West-Berliner Zeiten gegründet. Zweimal in der Woche trifft man sich zu einer Wanderung, mittwochs und sonntags. Wer kommt, der kommt. So sind sie, die urbanen Alpinisten: Herdentiere und doch Individualisten. Niemand will hier zu festen Terminen verpflichtet werden.
Dann gehen die S-Bahntüren der Bahn aus Berlins Mitte auf und man erkennt sie sofort, die Wanderer. Nicht nur wegen der kleinen Rucksäcke auf allen Rücken. Es sind auch die praktischen sandfarbenen oder dunklen Outdoorhosen, fast alle lang, oben trägt man lockere Freizeithemden, gerne kariert. Und dann die Schuhe, die sind am auffälligsten. Es ist ja Sandalenwetter. Aber die Füße der acht Teilnehmer stecken in ordentlichen, sehr festen Wanderstiefeln, manche tragen sogar zünftige rote Wandersocken dazu. Mir wird schon beim Anblick heiß. Meine Turnschuhe sind sehr dünn und dadurch mehr oder weniger unfreiwillig atmungsaktiv. Oben ärmellos. Und natürlich kurze Hose. Es ist weniger ein Wander- als ein Ich-gehe-jetzt-baden-Outfit.
„Wenigstens sind Sie nicht in Flip-Flops gekommen“, scherzt Klaus Szczawinski. Dann lässt er die Gruppe abstimmen. Wie der Rheinländer sagen würde: Wollen mer se mitnehmen? Alle stimmen zu. „Wir sind hier Demokraten“, sagt Szczawinski. Hier wird alles gemeinsam entschieden. Ich bin drin. Auf geht’s!
Ziel ist der Uferpfad durch den Wald am Flakensee. Dort im Schatten lässt es sich gut aushalten. Doch erst mal muss ein Stück durch Erkner gelaufen werden, damit man an der Löcknitz entlang zum See gelangt. Klaus Szczawinski und seine Frau Gabi sind die Route am Montag schon einmal abgelaufen, damit nichts schiefgeht. So machen sie es immer. Beide sind Rentner und haben nun, wo sie die Zeit dafür haben, ihre Leidenschaft, sich Touren für andere auszudenken, entdeckt. Neben ihrer Leidenschaft für den 1000-Quadratmeter-Garten, mit allerlei Obst und Gemüse. So lernen sie mehr und mehr von Berlin und Berlins Umgebung kennen.
Zwei Touren pro Monat
Seit Januar 2017 planen sie etwa zwei Touren pro Monat. Es gibt ja noch viel mehr Wanderleiter in der Gruppe. Denn über das Jahr kommt schon eine stattliche Anzahl an Wanderungen zusammen. Gewandert wird zu jeder Jahreszeit, bei Wind und Wetter. Auch bei Dauerregen, Eis oder Schnee. Nur bei einer Unwetterwarnung fällt eine Tour aus.
Eis und Schnee, ha, das kann man sich bei dieser Hitze kaum noch vorstellen. Erste Trinkpause im Wald, man sitzt gemütlich gemeinsam auf einem Baumstamm. „Wir sagen immer Dr. Wald“, meint Jutta Mushack und zeigt auf die grüne Umgebung. Weil man hier rauskommt, durchatmen kann, zur Ruhe kommt, sich bewegt, sich erholt. Das tue dem Körper, tue auch der Seele gut. Deshalb ist sie regelmäßig dabei. Zumindest bei den kürzeren Touren, die sie noch gut schafft. Wieso „noch“ schafft? „Ich bin 80.“
Achtzig Jahre – nie und nimmer! Und nach und nach erfahre ich das Alter der anderen Teilnehmer: 77, 79, 75. Bei niemandem hätte ich richtig gelegen, alle sehen jünger aus und sind fit wie ein Turnschuh! Die Hitze, sie scheint ihnen nichts auszumachen. Denn schon geht es weiter. Bald ist das Seeufer erreicht.
Es wäre allerdings verkehrt zu glauben, der Alpenverein sei in Berlin eine überalterte Veranstaltung. Hier gibt es viele Gruppen und jede hat ihr eigenes Profil. In der „Na-Tour“-Gruppe sind viele Familien unterwegs, genauso bei den „Bergsalamandern“, die Wandergruppe „25+“ macht nur längere Touren und die „Fahrtengruppe“ erläuft die Umgebung, fährt aber auch schon mal eine Woche nach Südtirol oder in die österreichischen Alpen.
Neben Wandern auch viele Klettergruppen in freier Natur
Die richtig Jungen allerdings, also alle unter 40, sind bei den Kletterern unterwegs. Das ist – neben Wandern in freier Natur – die zweite große Aktivität des Alpenvereins. Es gibt viele Klettergruppen: die Frauenklettergruppe, Achterbahn-Klettergruppe, Sonntagskletterer, Sportkletterer, Queer-with-friends-Klettergruppe, die Bergzwerge. Der Alpenverband hat eine eigene Kletterhalle.
„Unser DAV-Kletterzentrum in zentraler Lage“, heißt es im Mitgliederheft „Berliner Bergsteiger“, sei ein Auslöser des aktuellen Mitgliederzuwachses von fast zehn Prozent im Jahr 2017 gewesen. Klettern ist in, genauso wie Bouldern. Und für die schönen Sommertage gibt es eine fast natürliche Klettermöglichkeit: der Kletterturm am Teufelsberg, 1970 errichtet. Auch von der Sektion Berlin. Denn durch die Mauer waren die West-Berliner von allen Klettermöglichkeiten vor der Haustür abgeschnitten. Der Turm aus Spritzbeton lässt viele Routen zu. Ideal zum Üben und Fitbleiben.
Zwischen den Badenden läuft plötzlich eine Wandergruppe
Wir dagegen haben fast den Campingplatz Flakensee erreicht, der am Wasser liegt. Ein Schwan hat sich unweit der Badenden vom Campingplatz in den Schatten gehockt. Man hört Kinderjuchzen, Wasserspritzen. Jetzt tauchen die ersten braun gebrannten Menschen in Badebekleidung auf. Wer sich nicht im Wasser abkühlt, hat sich irgendwo unter den Baum gelegt, liest, döst, hört Musik. Es muss lustig aussehen, wir, die flotte Seniorentruppe, die mit schnellen Schritten an ihnen vorbeizieht. Völlig bekleidet, trotz Hitze. Zum Glück hat niemand Nordic-Walking-Stöcke dabei. Die sind hier verpönt, weil sie ständig in der Gegend herumpieksen.
„Bitte umdrehen“, fordert eine weibliche Stimme aus Klaus Szczawinskis Hosentasche. Es ist die Dame vom Navi, sie will anders laufen. „Papier war gestern“, hatte er mir schon gleich zu Anfang gesagt. Mit einer Papierkarte läuft er nicht herum. Außerdem gibt es nicht viele gute Wanderkarten von Berlin und Umgebung. Es verändert sich ja ständig etwas. Wege, die gestern noch offen waren, sind heute geschlossen, weil jemand ein Grundstück gekauft hat.
Auch über 25 Jahre nach dem Mauerfall ist die hiesige Welt noch im Umbruch. Gerade in den Winkeln, die lange vergessen waren. Und die die Wandergruppe jetzt Woche für Woche erschließt. Hauptsache, man kommt öffentlich hin: mit BVG oder Regionalzügen. Es gibt ja schließlich das 65plus Abo.
„Bitte umdrehen“, beharrt die Dame vom Navi. Sie möchte weg vom Wasser. Szczawinski lässt sich nicht beeindrucken, er kennt die Route ja. Das hübsche Woltersdorf ist nun nicht mehr weit. Dort wird auf einem Mäuerchen Rast gemacht. Alle haben etwas mit – Banane, Würstchen, Stulle. Klassische Wanderermahlzeiten. Wir lassen den Blick über den See schweifen. Es ist schön!
Wie tief die Sehnsucht der Deutschen nach Wandern, nach dem Gang durch die Natur ist, zeigt aktuell die Ausstellung „Wanderlust“ in der Alten Nationalgalerie. Auf den Bildern lassen Wanderer den Blick in die Ferne schweifen, hängen den Gedanken nach und atmen sehnsuchtsvoll durch.
Doch wie unpraktisch waren damals vor rund zweihundert Jahren die Wanderer noch angezogen! Mit Gehrock und Unterkleid ging es die Berge hoch. Um 1800 kam das Wandern in Mode, bekam Natur plötzlich etwas Erholsames oder auch Majestätisches, was bewundernswürdig schien. Berge, Seen, weite Blicke, Sonnenuntergänge. Einswerden mit der Natur, das ist der deutsche romantische Traum.
Die Natur allerdings, ich werde weniger eins mit ihr, als dass sie zu mir vordringt. Meine dünnen Turnschuhe sind inzwischen gefüllt mit märkischem Sand, die nackten Beine sind verdreckt vom Staub und an der linken Ferse bildet sich langsam eine Blase. Bloß nicht jammern! Die anderen schreiten fröhlich plaudernd voran. Im Wasser steht ein großes Schild für die Boote: „Berlin“ mit Pfeil nach rechts. Hoffnung! „Wie viel haben wir schon geschafft?“, fragt die Autorin zaghaft. „Höchstens drei Kilometer“, witzelt Paul Gottschalk. Nein, nein, beruhigen die anderen, wir sind gleich da. Verdammt, der Mann ist 79 und kann bei der Hitze noch Witze reißen. Dr. Wald, sie haben recht. Diese Wanderungen halten jung. Die Natur auch. Und Alpinist kann man überall sein.
Deutscher Alpenverein Sektion Berlin
Geschichte Der „Deutsche Alpenverein“ wurde 1869 von 49 Herren gegründet – vier von ihnen waren Berliner. Sie gründeten wohl etwa zeitgleich die „Sektion Berlin“. Von Anfang an hatte es Tradition, dass sich innerhalb der Sektion wieder Untergruppen bildeten. Beliebt waren in der Frühzeit des Alpenvereins auch Bälle und Feste: „Erscheinen nur in alpiner Tracht gestattet“.
Aufarbeitung Die „Sektion Berlin“ hat sich ihrer Vergangenheit gestellt und den Antisemitismus aufgearbeitet, der ab den 20er-Jahren bestimmend war. Schon ab 1927 werden jüdische Mitglieder nur noch beschränkt aufgenommen, ab 1938 wird der „Arierparagraf restlos“ eingeführt – auch „Mischlinge“ gehören nun nicht mehr dazu. Frauen werden erst ab 1929 in der „Sektion Berlin“ aufgenommen.
Heute Die „Sektion Berlin“ des Alpenvereins hat einen regen Terminkalender – wandern, klettern, sogar Yoga. Das DAV-Kletterzentrum mit 2000 m Kletterfläche befindet sich in der Seydlitzstraße 1, gleich am Hauptbahnhof. Der Jahresbeitrag für die „Sektion Berlin“ ist unterschiedlich, zwischen 36 Euro (Kinder und Jugendliche) bis 123 Euro (Familien). Alle Infos unter: www.dav-berlin.de
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