Nördlich von Berlin leben wilde Pferde und Rinder. Warum sich die Schauspielerin Antonia Gerke am Stadtrand um die Tiere kümmert.
Berlin. Prenzlauer Berg, gegen 9.30 Uhr: Die Hitze liegt wie eine Glocke über Berlin. Es ist fast so, als würde die Luft stehen. Wer kann, flieht in diesen Tagen aus der stickigen Enge der Stadt und sucht Zuflucht in der Natur. Antonia Gerke tut dies täglich. Die Schauspielerin hat auf dem Gut Hobrechtsfelde im Landkreis Barnim in den vergangenen drei Jahren eine Pferdekultur aufgebaut, die ihr ein Gegengewicht zu ihrem fordernden Job bietet. Gerke leitet auf dem Gut eine Reitschule, bietet Seminare mit Pferden für Unternehmen an und arbeitet mit dem Pankower Kinderhospiz Sonnenhof zusammen.
Doch auf dem Gut leben nicht nur Reitpferde, sondern auch Koniks. Das Konik, polnisch für „kleines Pferd“, ist eine robuste Ponyrasse, die immer schon frei, sich selbst überlassen in der Natur lebte. Die Rasse ging aus wilden Herden hervor, die noch vor rund 200 Jahren in Polen lebten. Zwar sind die Koniks im engeren Sinne keine Wildpferde, aber da sie schon immer mit sehr wenig menschlicher Obhut gehalten wurden, sind sie ähnlich robust und genügsam wie echte Wildpferdrassen. Diese besonderen Pferde bringt Gerke neugierigen Stadtmenschen seit April in monatlichen Führungen näher.
Die „Tatort“-Schauspielerin, die Kunst und die Pferde
„Durch den täglichen Umgang mit den Pferden bin ich sicherer geworden, ruhiger, geerdeter“, sagt sie. „Anstatt in einem Fitnessstudio zur Bauch-Beine-Po-Gymnastik zu pilgern, putze ich Pferde oder miste den Stall aus. Das hat den gleichen Effekt, ist aber sinnvoller“, erzählt Gerke, als wir uns in ihrem Auto durch den Stadtverkehr auf in Richtung Natur machen.
Gerke ist wohl das, was man meint, wenn man „Pferdemensch“ sagt. Sie wuchs in Elmshorn auf, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Mit sechs Jahren begann sie mit dem Reiten, machte Reitabzeichen, lief Turniere. Sie wollte eigentlich Tiermedizin studieren, doch dann kam alles anders. Gerke absolvierte ein Praktikum beim Film und wurde, eher zufällig, Schauspielerin.
Sie spielte in zahlreichen Fernseh- und Kinofilmen mit, unter anderem in „Baader Meinhof Komplex“ und im „Tatort“. Für Pferde war keine Zeit. Doch neben der Schauspielerei widmete sich Gerke auch der bildenden Kunst – und fand so den Weg zurück zu den Pferden. Für das Kunstprojekt „Tracks of Trust“ trug sie Leinwände auf die Koppel des Guts Hobrechtsfelde und ließ die Koniks über die noch nasse Farbe laufen.
Nur 20 Autominuten vom Norden Berlins entfernt
„Dafür musste ich das Vertrauen der Pferde gewinnen, die sich auf diese ungewohnte Oberfläche begaben. Natürlich fanden das alle erst einmal verrückt“, sagt Gerke. Doch die Ausstellung der Bilder in der Berliner Galerie Hiltawsky war ein Erfolg, und so begann Gerkes Zusammenarbeit mit der Agrar GmbH Gut Hobrechtsfelde. Fünf Jahre später absolvierte Gerke einen Studiengang in Tierpsychologie, um das Wesen der Pferde noch besser zu verstehen. Nun spielen die Tiere in ihrem Leben wieder eine wichtige Rolle.
Das Gut Hobrechtsfelde ist nur 20 Autominuten vom Norden Berlins entfernt. Wir lassen den Prenzlauer Berg mit seinen Boutiquen, Cafés und Restaurants hinter uns. Als wir nach kurzer Zeit die A114 schon wieder verlassen und in das Örtchen Hobrechtsfelde fahren, fühlt sich Berlin unendlich weit entfernt an. Die Hauptstraße mit ihrem denkmalgeschützten Kopfsteinpflaster, die Bäume, die sie säumen, die großen Bauernhäuser: Alles wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Keine Läden, kein Lärm, kein Verkehr. Eine echte Dorfidylle, nur einen Steinwurf von der Stadt entfernt.
Wir biegen links auf das Gelände des Guts Hobrechtsfelde ab. Schon wieder sind wir in einer anderen Welt. Die weitläufigen, ehemaligen Rieselfelder haben etwas von einer Prärielandschaft. Vor uns erstrecken sich Weiden, dahinter Wälder, Wege, die zum Spazieren einladen. Auf einer Koppel weiden die neun Shetland-Ponys der Reitschule. Um uns herum: nur Grün, wohin das Auge blicken kann.
Die Rieselfelder waren Teil von Berlins Entwässerungssystem
Das Erste, was auffällt: wie ruhig es hier ist. Die einzigen Geräusche sind der Wind in den Baumkronen und das Zwitschern der vielen Vögel, die das Gelände auch für Ornithologen interessant machen. In dem halb offenen Wald leben Eichelhäher, Neuntöter, Kraniche, Rotmilane und viele andere, teils bedrohte Vogelarten. Im Gras hört man Insekten zirpen. Auf einmal ist die Hitze erträglich. Die Luft riecht nach Freizeit.
Das war nicht immer so: Als der Stadtbaurat James Hobrecht das Entwässerungssystem für Berlin entwarf, entstanden hier nach seinen Plänen die sogenannten Rieselfelder. Von 1875 bis 1985 wurden Berlins Abwässer durch die Sandböden der Rieselfeldlandschaft Hobrechtsfelde gefiltert. Die Luft roch streng. Noch vor vierzig Jahren hätte niemand daran gedacht, auf diesem Gelände am Rande der Barnimer Hochfläche Erholung zu suchen.
Mitte der 80er-Jahre wurde das Gelände schrittweise aufgeforstet, ein Erholungswald für Berlin sollte hier entstehen. Fünf Millionen Bäume wurden in den von Gülle durchtränkten Boden gepflanzt, ein echtes Mammutprojekt. Doch nur etwa die Hälfte der gepflanzten Bäume wuchs an. Das teilweise Scheitern des Vorhabens schuf eine halb offene Waldlandschaft mit Weideflächen, Büschen, Laubbäumen, die früher in dieser Region typisch waren, heute aber selten sind.
Pferde und Rinder pflegen die Landschaft
Im Jahr 2011 taten sich das Bundesamt für Naturschutz, die Berliner Forsten, der Naturschutzfonds Brandenburg und der Förderverein Naturpark Barnim e. V. für das größte Waldweideprojekt Deutschlands zusammen. Durch die Ansiedlung wild lebender Rinder und Pferde sollte die Artenvielfalt gefördert wurden. Das Projekt war erfolgreich: Heute bietet der Hobrechtswald vielen bedrohten Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum.
Gegenwärtig weiden 135 Rinder und 60 Koniks auf dem 800 Hektar großen Gelände, versorgt werden sie von der Agrar GmbH Gut Hobrechtsfelde. „Die Koniks sind quasi Landschaftspfleger“, sagt Antonia Gerke. „Dadurch, dass sie auf den Weideflächen grasen und mit ihren Hufen Pflanzen abtragen, verbuscht die Landschaft nicht, der Baumwuchs bleibt unter Kontrolle, und der Wald halb offen.“ Wenn die Tiere sich im Gras wälzen, entstehen sogenannte Wälzkuhlen, in denen sich Echsen und Schlangen wohl fühlen. Ganz nebenbei düngen die Koniks das Gelände auch noch. So gestalten die Tiere die Landschaft aktiv mit und tragen zu einer neuen Artenvielfalt bei.
Koniks sind erstaunlich zutrauliche Pferde
Nur: Wo stecken die Landschaftspfleger gerade? Wir müssen etwas suchen. Doch wir haben Glück: Auf einer Weidefläche, knapp einen Kilometer vom Eingang entfernt, entdecken wir eine Herde. Die Tiere muten mit ihrem hellgrauen Fell und der dunklen, zotteligen Mähne tatsächlich wild und ursprünglich an. Als wir uns ihnen nähern, sind sie gerade beim zweiten Frühstück, sagt Gerke. Sie lassen sich von unserem Besuch nicht weiter stören und kauen in Ruhe weiter an den Grashalmen.
Koniks sind, anders als andere Pferderassen, erstaunlich zutraulich. „Daran, dass sie weit auseinander stehen, sieht man, dass sie entspannt sind“, sagt Gerke. Dann deutet sie auf eine der kleinsten Stuten in der Gruppe und sagt: „Das ist eine der Leitstuten.“ Woran man das erkennt? „Sie hebt zuerst den Kopf, wenn sich zum Beispiel ein Mensch der Herde nähert. Die anderen Tiere übernehmen ihr Kommando, sie versetzt die Herde auch in Alarmbereitschaft, wenn Gefahren nahen.“ Bei Gerkes Führungen erfährt man, wie eine Herde organisiert ist, wie man das Verhalten von Pferden richtig deutet und wie der Tagesablauf eines Pferdes eigentlich aussieht: vier aktive Stunden, 14 Stunden Nahrungsaufnahme und nur fünf Stunden, in denen geschlafen beziehungsweise geruht wird.
Nicht füttern! Koniks sind keine Streicheltiere
Gerkes Ziel ist es, den Städtern ein Bewusstsein dafür zu geben, dass Koniks eben keine Streicheltiere sind. Füttern ist streng verboten, die Pferde können dadurch krank werden. Besucher sollten außerdem mindestens 25 Meter Abstand von den Tieren halten. „Bei vielen Stadtkindern fange ich wirklich bei null an“, sagt Gerke. Viele wüssten nicht einmal, was Hufe sind. „Ein Erfolgserlebnis ist es deswegen, wenn die Kinder nach der Führung eben nicht darum buhlen, die Tiere zu streicheln, sondern sich für die Pferdeäpfel interessieren und mit einem Ast darin herumstochern, weil ich ihnen erklärt habe, wie viele Käfer und Insekten im Pferdemist leben.“
Bei Erwachsenen mache es sie zufrieden, wenn diese nach einer Führung neuen Respekt vor der Natur gewonnen haben und begreifen, dass der Mensch nicht immer eingreifen muss. Dass sich viele Dinge von ganz alleine regulieren. Koniks seien sehr widerstandsfähige und trittfeste Tiere. „Sie fressen raufaseriges Gras und Pflanzensorten, die andere Pferde gar nicht verwerten können.“
Die Hektik der Großstadt verblasst hier draußen
Etwas weiter, vorbei an Birnenbäumen, Schilf, Blautannen, Birkenhainen und steppenartig anmutenden Wiesen, haben sich einige Rinder einen schattigen Ort gesucht. Auf Gut Hobrechtsfelde leben Galloways, Schottische Hochlandrinder und Kreuzungen der beiden Arten. Die Rinder sind jedoch wesentlich weniger neugierig als die Koniks und beäugen uns aus sicherem Abstand. Wildtiere beobachten ist eben auch Glückssache. Doch selbst wenn man den Rindern und Pferden nicht nahe kommt: Ein Ausflug über das Gelände lohnt auch so. Nach ein paar Stunden in der Brandenburger Wildnis ist die Hektik der Großstadt nur noch eine blasse Erinnerung.
Zum Schluss führt Gerke mich zu Europa, ihrer „Vorzeigestute“. Sie ist eines von sechs Koniks auf dem Gut, die nicht wild leben, sondern geritten und eher wie ein Pony gehalten werden. Geduldig lässt sich Europa an Kopf und Hals streicheln, einzig die vielen Fliegen setzen ihr an diesem heißen Augusttag zu. „An ihr erkläre ich die Rassemerkmale der Koniks zu Beginn der Führung“, sagt Antonia Gerke. „Wer diesen Tieren nahe kommt, spürt, was für eine Ruhe und Kraft sie ausstrahlen. Danach kehrt man in jedem Fall beflügelt und erholt in den Stadtalltag zurück.“
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