Berlin kann man auch trinken: In einer Neuköllner Bar werden Cocktails aus Stachelbeere und Holunderblüte aus der Stadt serviert.
Kreuzberg/Neukölln. Die Sonne knallt auf den Engeldamm. Kreuzberg schmilzt fast davon an diesem Sommertag. Der Hitze muss ich heute jedoch standhalten. Ich bin mit Ruben Neideck zum Kräuterpflücken verabredet. Der 30-Jährige ist Barkeeper im „Velvet“ in Neukölln. Das Konzept der Bar: Je nachdem, was die Natur gerade zu bieten hat, verarbeiten Ruben und seine Kollegen die saisonalen Zutaten zu Hausgemachtem. Wein aus Rhabarber, Sirup aus Lavendel, Destillat aus Pfifferlingen – die Stadtnatur wird im Velvet zum schicken Cocktail. Berlin im Glas, sozusagen.
„Letztes Mal bin ich hier vollkommen ausgerastet“, sagt Ruben und grinst. „Ich habe diesen Ort erst vor ein paar Wochen entdeckt“. Wir treffen uns am Engeldamm auf Höhe des Künstlerhauses Bethanien. Die Luft steht zwischen den Mauern der Grünfläche zwischen Kreuzberg und Mitte. Wir sind die einzigen Besucher, nur hin und wieder kommen Spaziergänger und Touristen vorbei.
Schlehen und Maulbeeren, Sanddorn und Kiefernzapfen, Schwarze Hagebutte und Kornelkirschen. Bäume und Büsche, die wie wild Früchte und Blüten tragen, reihen sich hier aneinander. Über einige dieser Zutaten wird es später in der Karte heißen, sie seien harzig und erfrischend – oder leicht und fruchtig. Über andere, dass sie aromatisch und kräftig oder sanft und nach Mandeln schmecken.
Schafgarbe und Wilde Möhre hat er schon im Rucksack
Die Grünfläche am Engeldamm ist schon Rubens zweiter Stopp auf seiner Erntetour an diesem Tag. Mit dem Rad ist er zuvor durch Kreuzberg gefahren, hat bereits Schafgarbe und Wilde Möhre im Rucksack. „Foraging“, zu Deutsch „Nahrungssuche“, wird genannt, was Ruben und seine Kollegen auf der Jagd nach saisonalen Zutaten aus der Stadt machen. Sie pflücken wild. Er sagt: „Es ist toll, die Stadt essbar zu machen.“
Ruben informiert sich über Bücher und das Internet, welche Pflanzen man verarbeiten kann und welche Früchte man besser am Baum oder Strauch lässt, weil sie giftig sind. „Eine sehr gute Quelle ist dafür auch Instagram“, sagt der 30-Jährige. Er nutzt den Fotodienst, um „Foragern“ beispielsweise aus Großbritannien zu folgen. „Durch den Golfstrom ist das Klima in England milder, dort ist deswegen alles zwei bis drei Wochen früher reif.“ So weiß er vorab schon, wonach er schauen muss.
An einem Kiefernbaum packt Ruben eine braune Papiertüte aus und beginnt, saftig grüne und frische Zapfen zu pflücken. Später wird er die kleinen Früchte längs halbieren und für zehn Wochen in Korn mazerieren. „So können wir die harzigen, aromatischen Öle extrahieren und bekommen feinen Kiefernzapfenschnaps“, sagt Ruben. Den verfeinert das „Velvet“-Team mit Bourbon, Zitronensäure, Sherry, Schokobitters und Ginger Ale und bietet ihn als „Junge Kiefernzapfen“ für zwölf Euro auf der wöchentlich wechselnden Karte an.
Dienstags ist Labortag
Seit anderthalb Jahren betreiben Ruben und drei Kollegen die Bar an der Ganghoferstraße in Neukölln. Während in den ersten beiden Monaten klassische Cocktails angeboten wurden, setzte das Velvet sehr früh auf saisonale Angebote. „Jeden Dienstag ist Labortag“, sagt Ruben. Dann kommt das Team zusammen, um aus den Zutaten neue Drinks zu kreieren. „Dabei verarbeiten wir unsere eigene Ernte, aber auch Produkte von einigen sehr ausgewählten Lieferanten.“
Mit der Kreuzberger Ausbeute radeln Ruben und ich in die Bar. Die Kiefernzapfen, die Wilde Möhre und die Schafgarbe wollen schließlich noch verarbeitet werden. Das „Labor“, in dem die Crew experimentiert, könnte ebenso in einem Krankenhauskeller oder einem Chemiebetrieb stehen. In dem klitzekleinen, edelstählernen Raum stehen all die Geräte – Ruben nennt sie „unsere Spielsachen“ – mit denen im „Velvet“ aus Stadtnatur Cocktails werden. Eine Zentrifuge, die wie in einem schnellen Kettenkarussell die flüssigen Stoffe von festen trennt. Ein Rotationsverdampfer, mit dem man Destillat gewinnen kann und ein Slowjuicer, der sogar Holz entsaften kann.
Zunächst geht es der Wilden Möhre an den Kragen. Ruben wirft eine gute Handvoll in einen großen Standmixer, kippt Münsteraner Korn darauf (drei Teile Alkohol zu einem Teil Kraut) und gibt noch einen Teelöffel Vitamin-C-Pulver dazu. „So bleibt die Pflanze schön grün“, erklärt der Barkeeper. Er mixt das Kraut-Korn-Gemisch zum Püree.
Den Brei füllt er anschließend in einen großen Glaskolben, den er so in den Rotationsverdampfer hängt, dass er über dem Wasserbad schwebt. Über eine Computerschaltfläche setzt er die Rotation in Gang. Ein lautes Rattern füllt den Raum. Nach einer knappen Minute beginnt das Püree im Kolben zu brodeln. Einen Augenblick später tropfen die ersten Milliliter Destillat heraus. Rund vierzig Minuten muss die Maschine arbeiten, um 500 Milliliter zu produzieren. Ruben füllt die gewonnene Flüssigkeit in ein Glas – das Destillat schimmert leicht bläulich, an der Oberfläche schwimmen kleine Fett-Tröpfchen, die gefilterten ätherischen Öle.
Kiefernzapfen in Korn eingelegt
„Es geht darum, dass wir am Ende ein gutes Getränk anbieten, nicht nur ein außergewöhnliches“, sagt Ruben. Der Koblenzer ist seit elf Jahren Barkeeper, hat sein Studium der Wirtschaftsinformatik abgebrochen, um in Berlin Cocktails zu mixen. Das naturbasierte Konzept des „Velvet“ stammt von ihm. Irgendwann habe ihn gelangweilt, aus den immer gleichen Zutaten und Spirituosen Getränke zu mischen. „Mein Ding war dann, mich zum einen für moderne Verarbeitungstechnik zu interessieren und zum anderen mit dem zu arbeiten, was um mich herum so wächst.“
Die Zutaten werden bei der Verarbeitung so effizient wie möglich genutzt. Zentrifugieren sie beispielsweise Fruchtpüree, so schöpfen die Barleute zum einen den gewonnen flüssigen Klarsaft ab, um daraus etwa Sirup herzustellen und verarbeiten außerdem auch die gefilterten Feststoffe. „Sagen wir, wir haben Stachelbeerpüree zentrifugiert, so können wir die Festmasse nochmal in den Mixer werfen und bekommen feinsten Stachelbeerpuder. Der macht sich super als Deko am Glasrand“, erklärt Ruben. Auch die Kiefernzapfen, die wir vorher in Korn eingelegt haben, werden später als Garnitur auf dem „Jungen Kiefernzapfen“ platziert.
„Eberesche“, „Chinesischer Wermut“, „Himbeere & Dill“ – auf der Karte tragen die Cocktails die Namen ihrer Hauptzutat. Jede Woche werden zehn Drinks angeboten. „Wir haben natürlich auch die gängigen Getränke da“, sagt Ruben, mit einem Bierpreis von fünf Euro für einen halben Liter Pils lägen sie in Neukölln bei einigen Gästen jedoch an der Schmerzgrenze. Im Hauptraum finden knapp 25 Gäste Platz, im Nebenraum ebenfalls. Das Ambiente ist schick-entspannt.
„In den Wintermonaten ist es hier rappelvoll“, sagt Ruben. Um auch in der kalten Jahreszeit alle zehn Plätze auf der Wochenkarte bespielen
zu können, muss das „Velvet“-Team in den Sommermonaten gut vorarbeiten. „Die Kiefernzapfen kann man über das Jahr hinweg sehr lange pflücken, andere Zutaten haben oft nur ein Erntefenster von ein paar Tagen.“ An diesem Sommertag fällt es schwer, an den Winter zu denken. Noch
zieht sich der Sommer durch die Karte: Erdbeere, Stachelbeere, Schwarze Johannisbeere, Holunderblüte. Cheers!
„Velvet Bar“, Neukölln, Ganghofer Straße 1, 12043 Berlin-Neukölln, mittwochs bis sonntags ab 20 Uhr. Info auf der Facebook-Seite der Bar: https://www.facebook.com/velvetberlin
Grunewald Foraging: Das ganze Jahr über bietet Jonathan Hamnett, der Kopf hinter Grunewald Foraging, Touren zum Wildpflücken durch Berlin und Brandenburg an. Er zeigt den Teilnehmern, wo man am besten pflücken kann und welche Früchte und Kräuter sich zum Verzehr eignen. Eine Tour kostet pro Person 25 Euro. Info: grunewaldforaging.com/