Berlin. Vom alten Bahnhof zum Park – das Schöneberger Südgelände liegt wie im Dornröschenschlaf. Es gibt dort viel zu entdecken.
Es ist ein Gefühl, wie es vielleicht einst den Märchenprinzen bei „Dornröschen“ überkam, als er endlich die Dornenhecke überwand und ein Schloss sah, in dem seit hundert Jahren die Zeit stehen geblieben war. Auch wer die schmale Pforte gleich hinter dem Südausgang des S-Bahnhofs Priesterweg passiert, glaubt, unvermittelt in einer anderen Zeit zu stehen. In einer Zeit, in der noch Dampfloks durch die Stadt schnauften und Waggons zu Hunderten darauf warteten, mit Menschen oder Waren beladen zu werden.
Die Hecke – das ist hier ein gemauertes Viadukt, über das einst Züge von Berlin aus in die Welt hinaus rollten. Knallgelb bemalt, ein Hinweis auf die mediterranen Ziele jenseits der Alpen. Auf der Mauer steht in großen Lettern: „Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis“. Ein Zitat des bayrischen Naturschützers und Stadterneuerers Karl Ganser, dessen Sinnhaftigkeit sich hinter dem Viadukt noch erschließen soll.
Hinter der Mauer verlaufen Schienen – etwas fleckig und rostig, aber eigentlich so, als wenn jeden Moment der nächste Zug uns entgegenkommen würde. Doch irgendwas passt da nicht ins Bild. Mitten im Gleis wächst eine Birke stolz in die Höhe. Dahinter eine Pappel, und noch eine Birke und eine Robinie. Nein, hier kann schon ewig kein Zug mehr gefahren sein. Der Besucher ist im Natur-Park Schöneberger Südgelände.
Selbst viele Berliner kennen den Park nicht
Der Park ist schon fast zwei Jahrzehnte alt und doch noch immer ein echter Geheimtipp. Selbst viele alteingesessene Berliner kennen ihn nicht. Dabei liegt das Südgelände gerade einmal vier S-Bahnstationen (mit der S2 oder S25) vom Potsdamer Platz entfernt. „Ich hatte vor Kurzem die Amtsleiter eines Bezirksamtes zu Gast, von denen war zuvor nicht einer schon mal hier“, berichtet Detlev Dahlmann vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Der 55-jährige Landschaftspfleger hat Ende der 90er-Jahre den Natur-Park mit aufgebaut, der später den Status eines Außenprojekts der Weltausstellung Expo 2000 erhielt.
Für Dahlmann ist das Schöneberger Südgelände ein Park, „wie es ihn so nicht in Paris, nicht in London oder Mailand gibt“. Wo heute das Schöneberger Südgelände ist, lag einst einmal der Rangierbahnhof Tempelhof, in den 1930er-Jahren größter Güterverschiebebahnhof Deutschlands. In einer kleinen Freiluft-Ausstellung nahe der ehemaligen Brückenmeisterei, heute Sitz der Parkverwaltung, zeigen Luftbilder den Besuchern die gigantischen Ausmaße des Bahnhofs. „Was auffällt: Es gab auf dem Gelände keinen Baum, keinen Strauch“, sagt Rita Suhrhoff, Parkmanagerin der landeseigenen Grün Berlin GmbH. Nichts sollte die Sicht auf das Verkehrsgeschehen einschränken, mit Brennern und Chemie wurde jedem noch so kleinen Grashalm der Garaus gemacht.

Die große Verwandlung des Areals setzte Anfang der 50er-Jahre ein. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war der Güterverkehr faktisch zusammengebrochen. Zudem lag der von Bomben getroffene Umschlagpunkt im Westteil der Stadt, die Deutsche Reichsbahn saß im Osten und stand unter Kontrolle der russischen Besatzer. Die hatten kein großes Interesse an einer Weiternutzung. Der Bahnhof wurde zu einem jener „lost places“, wie es sie so nur in Berlin geben konnte, erinnert sich Dahlmann, der in der Nähe des Geländes aufwuchs und es immer wieder heimlich inspizierte. Es gab einen immer löchriger werdenden Zaun. Erst langsam, dann immer schneller holte die Natur sich das Terrain zurück.
„Hier wurde nichts extra gepflanzt. Alles hat die Natur ganz allein geschafft“, sagt Dahlmann, der regelmäßig zu einer Führung einlädt durch einen Teil des insgesamt 18 Hektar großen Areals. Zu entdecken gibt es dabei viel: Die bizarren Relikte der Eisenbahnzeit, wie die alten Signale, Lichtmasten und Wasserkräne. „Anders als bei anderen Bahnanlagen hat die Reichsbahn hier kaum etwas demontiert, fast alles befindet sich im Originalzustand“, so Dahlmann. Der Hingucker ist natürlich die alte Dampflok der Baureihe 50. Um 1940 von den Henschel-Werken in Kassel gebaut, war sie noch bis Anfang der 80er-Jahre im Einsatz und fand erst anschließend den Weg auf das Südgelände.
Auf der anderen Seite ist da die Wildnis. Pfirsichbäume, seltene Wildäpfel und Birnen stehen gleich neben den Gleisen. Dahlmann vermutet, dass auch sie Zeugnisse der Eisenbahnzeit sind, gepflanzt wurden sie nicht. „Vielleicht ein Apfelgriebsch oder ein Kern, den jemand aus dem Waggonfenster geworfen hat.“ Vieles bleibt Vermutung. Die Herkunft vieler exotischer Sträucher und Tierarten dürften Folgen der früheren Nutzung sein. So hat wohl auch die Gottesanbeterin, die einzige in Europa vorkommende Fangschreckenart, ihren Weg im Güterwaggon aus dem Mittelmeerraum nach Berlin gefunden. Auch die Höhlenspinne Nesticus eremita dürfte aus Südfrankreich mit der Bahn angereist sein.

„Der Natur-Park hat ein ganz besonderes Mikroklima“, sagt Dahlmann. Beste Bedingungen für Flora und Fauna, wie sie in einer großflächig versiegelten Stadt eher selten sind. 30 Brutvogelarten, 57 Spinnenarten, 95 Wildbienenarten, 15 Heuschreckenarten sowie über 350 Pflanzenarten und 49 Großpilze besiedeln laut Parkverwaltung das Gelände. Eine Besonderheit seien die Habichtskräuter: Täuschendes Habichtskraut und Geflecktes Habichtskraut kommen in Berlin und Brandenburg nur hier vor, heißt es. Attraktiv sind auch die vielen Wildrosenarten.
An einer Stelle liegen die Reste von zwei im Krieg zerstörten Lokhallen wild übereinander. Stein, Eisen, Beton – inzwischen ist alles überwuchert von einer Vielzahl von Pflanzen. „Moosgarten“ heißt der Ort heute. „Eigentlich dürfte hier gar nichts wachsen, denn der Hallenboden ist fast vollständig erhalten“, sagt Dahlmann. Doch mit der Zeit hat sich aus verwehten Blättern und Bodenkrumen eine Humusschicht gebildet, auf der die Pflanzen Halt und Nährstoffe finden. Inzwischen wachsen auf der dünnen Schicht sogar Bäume, die Samen wurden vom Wind hergetragen. Parkführer Dahlmann wird an dieser Stelle ganz philosophisch: „Wer sehen will, welche Kraft so ein kleines schwaches Pflänzchen entwickeln kann, der muss hierherkommen.“
Der Wasserturm soll demnächst saniert werden
Der alte Wasserturm ragt weithin sichtbar gut 50 Meter in die Höhe. Das Wahrzeichen ist wie so viele andere Bahnrelikte von Rost zerfressen. Zudem haben Kriegsgranaten tiefe Löcher in den Stahl gerissen. Nun soll der denkmalgeschützte Turm so saniert werden, dass er nicht zur Gefahr für die Besucher wird. 2,1 Millionen Euro stehen dafür bereit. In Kürze soll begonnen werden. Für Parkmanagerin Suhrhoff hat der Turm nicht nur wegen dieses Projekts eine große Bedeutung. Fast ganz oben in einem der Granatlöcher nisten seit einigen Jahren schon Turmfalken. Seit drei Wochen sind sie flügge und drehen ihre ersten Runden. „Den jungen Falken vom Arbeitsplatz aus beim Fliegen zuzusehen, ist schon ein Geschenk“, sagt Parkmanagerin Suhrhoff.
Der kleine Rundgang endet im „Giardino segreto“. „In der Renaissance bekam jeder Park einen solchen geheimen Garten“, sagt Suhrhoff. Auf dem Südgelände haben Künstler der Gruppe „Odious“ den einstigen Lagerplatz der Reichsbahner umgestaltet. „Statt Tulpen und Dahlien haben wir hier Beete mit Schotter und Schrauben“, sagt Suhrhoff. Und der akribisch gepflegte Rasen glänzt ganz in Anthrazit. Die Rosenhecke besteht aus Stahl. Irgendwie märchenhaft. Ach ja, Dornröschen ist erwacht.
Südgelände: Führungen und Info
Führungen: „Bahnbrechende Natur“ mit Landschaftspfleger Detlev Dahlmann findet wieder statt am 12. Aug., 9. Sept., 14. Okt. und 11. Nov..Treffpunkt: 14 Uhr, Parkeingang S-Bhf. Priesterweg, Anmeldung: Tel. (030) 4502 3189 oder E-Mail: gartengestaltung@ detlevdahlmann.de; Kosten: 8 Euro (erm. 6,50 Euro, zzgl. 1 Euro Parkeintritt).
Eingänge: Natur-Park Schöneberger Südgelände, Prellerweg 47–49, 12157 Berlin; Hauptzugang: direkt am S-Bhf. Priesterweg; südl. Ausgang: Fußgängerbrücke über die S-Bahngleise vom Hans-Baluschek-Park sowie vom Prellerweg.
Geöffnet: Täglich ab 9 Uhr bis zum Einbruch der Dunkelheit, bei Abendveranstaltungen auch länger, Eintritt: 1 Euro p. P. ab 14 Jahren. Radfahren und Tiere sind untersagt. Teile sind Landschafts- und Naturschutzgebiet und dürfen nicht betreten werden.
Einkehren: Café Paresüd, geöffnet am Wochenende und feiertags von 11 bis 18 Uhr (April bis Oktober). Mehr Informationen unter www.paresued.de
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