Raus in die Stadtnatur

Spazieren zwischen Gräbern: Die Idylle der Bergmannfriedhöfe

Foto: Reto Klar / BM

Tabubruch oder gute Idee? Aus alten Friedhöfen sollen Parks werden – Besuch am Südstern. Morgenpost-Serie, Teil 18.

Berlin. Abends, wenn man die Friedhofsmauer an der Bergmannstraße in Kreuzberg entlangläuft, hat man den Eindruck, es habe jemand ein Fenster aufgemacht. Überrascht steht man in einem frischen Luftzug, es duftet süß nach Kiefernharz und trockenem Gras. Wenn es regnet, riecht es nach Wald. Hat man das Ende der Mauer am Südstern erreicht, steht man an einem abweisenden Tor. Es hat bisher verhindert, dass ich dem Geheimnis der Frischluft von Kreuzberg je auf den Grund gegangen bin.

Ein Friedhof als Naturoase, mitten in der Stadt? „Nun ja“, scheinen die Blicke der Leute zu sagen, denen ich begeistert von meiner Entdeckung erzähle. Wer, bitte, macht einen Ausflug zum Friedhof? Es sind sogar sehr viele, wie ich bald feststellen werde.

Am Morgen um zehn sind die Tore der Bergmann-Friedhöfe weit geöffnet. Es gibt mehrere Eingänge, denn die lange Mauer umschließt insgesamt vier Friedhöfe zwischen Bergmann-, Züllichauer- und Jüterboger Straße. Ich bin verabredet mit Manfred Schubert, Diplom-Biologe und Experte in Sachen Friedhofsnatur. Er will mir die Idylle hinter den Mauern erklären.

Berliner Friedhöfe sind begehrtes Land

Friedhöfe sind ein großes Stück Stadtnatur. Die 220 Berliner Friedhöfe belegen mit 1100 Hektar zusammengenommen fast dreimal so viel Platz wie das Tempelhofer Feld. Und sie sind wie dieses begehrtes Land. Weil immer mehr Berliner anonym oder auf Gemeinschaftsflächen bestattet werden, liegen immer Grabfelder brach. So auch auf einem Teil der Bergmann-Friedhöfe, um den seit zwei Jahren gestritten wird. Der Evangelische Friedhofsverband Berlin-Mitte plant auf dem nördlichen Rand ein Flüchtlingsheim – eine Bürgerinitiative protestiert. Außerdem soll ein Friedhofspark zwischen verlassenen Gräbern entstehen. Braucht man das, hier, um die Ecke von Hasenheide und Tempelhofer Feld? Auf zur Besichtigung eines umstrittenen Terrains.

Manfred Schubert ist Geschäftsführer der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz e.V., die für den Senat Gutachten koordiniert und erstellt – unter anderem auch zur Biodiversität auf Friedhöfen. Doch statt des Biologen treffe ich zunächst auf viele junge Familien in bunten Sommerkleidern. Über ihnen weht eine Traube Luftballons. Nur in den Augen ist das Unfassbare abzulesen. Die Trauer um ein Kind. Am liebsten würde ich umkehren.

Schubert aber hat keine Bedenken, unseren Rundgang hier zu beginnen. Die Bergmann-Friedhöfe seien mit insgesamt 20 Hektar groß genug, dass man die Trauernden nicht störe. Interessant sei für uns ohnehin der hintere Teil des denkmalgeschützten Alten Luisenstädtischen Friedhofs, wo die meisten Gräber längst aufgegeben sind.

Zunächst aber führt er mich zur Friedhofsmauer. Zwischen den historischen Ziegelsteinen mit der Prägung der Ziegelei „Rathenow“ quillt ein kleines Kraut heraus: „Die Mauerraute“, sagt Schubert. „Sie gehört zu den Farngewächsen und gedeiht in Steinritzen.“ „Wenn Mauern wie diese saniert werden, verschwindet der Farn.“ Menschen wie ich würden das wahrscheinlich gar nicht bemerken. Aber die Natur wäre um ein Gewächs ärmer. Was Schubert mir sagen will: Denkmal- und Naturschutz müssen Hand in Hand gehen.

Jenseits der Mauer zieht sich eine Allee sanft bergan – der Friedhof war mal ein Weinberg. Der Weg ist gesäumt von Linden – und prächtigen Wandgräbern. Säulen, Mosaike, floraler Jugendstil, und neogotische Minikapellen: Der Luisenstädtische Friedhof wurde 1831 vor den Toren der Stadt angelegt, weil Berlin wuchs. „Regierungsbaumeister“, „Direktor“, „Rentier“, sogar ein „Schlächtermeister“ liegt hier begraben. Berliner „Alleequartierfriedhöfe“ wie dieser sind ein Who-is-Who des preußischen Bürgertums. Die Pflanzen rundherum lerne ich, sind teilweise fast genauso alt. Es sind „Trauerformen“ mit hängenden Zweigen und Ästen, Immergrünes wie Efeu, Farn und Nadelbäume – und noch viel mehr, was das Besondere dieses Friedhofes ausmacht. Die sprichwörtliche Friedhofsruhe gilt hier auch für die Natur. „Vieles kann sich hier ungestört entwickeln“, sagt Schubert.

Schubert deutet auf Farne vor einem Grab aus schwarzem Granit. Farne sind Symbole des ewigen Lebens wie auch die steinerne Zierde des Grabes – Schlafmohn und Palmzweige. Der Farn aber hat sich wohl selbst hier angesiedelt. Wenn man die Gräber erhalten wolle, sagt er, sei es wichtig, der Vegetation Einhalt zu gebieten. Anderseits sei diese ungestörte Natur etwas Besonderes.

Gut zwei Kilometer ziehen sich die Mausoleen um den Friedhof. Die bröselnden, überwucherten Grabstätten wirken wie eine Filmkulisse. Auf einem marmornen Sarkophag liegt zusammengesunken eine lebensgroße Figur. Ein trauernder Mann, so realistisch, dass man ihm fast aufhelfen möchte. Es ist eines der wenigen restaurierten Gräber, für die eine Spendenaktion läuft.

Auf dem berühmtesten Grab steht schlicht: „Stresemann“. Der Reichskanzler und Außenminister der Weimarer Republik ist ohne Vornamen bestattet. Der Efeu rankt hier nur da, wo er hingehört, denn Ehrengräber werden vom Land Berlin gepflegt. Interessant sind aus Sicht des Naturschützers vor allem die weißen Flecken auf dem Stein. Was aussieht wie Vogeldreck, seien Flechten, sagt Schubert. „Eine Symbiose aus Algen und Pilzen, es gibt Tausende Arten.“ Es hat etwas gedauert, bis auch die Grabpfleger verstanden, dass man diese „Flecken“ besser nicht wegputzt.

Stresemann wurde ohne Vornamen beerdigt

Wegen der Flecken gibt es immer wieder Beschwerden, ebenso wegen der Äste in den Wasserbecken – Ausstiegshilfen für Eichhörnchen. Natur zu erhalten, bedeute, den Besuchern diese genau zu erklären. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) hat deshalb sieben Infotafeln aufgestellt. Zu Flechten und Frühlingsblühern, Artenreichtum und Baumhöhlen in alten Bäumen. Auf unserem Weg entdecke ich eine, es sind aber wohl insgesamt 80.

Über uns zwitschert es in den Bäumen, Insekten summen, Mütter schieben Kinderwagen durch die Grabreihen. Vor einem neuen Grab sitzt ein junger Mann im Sportdress. Etwas weiter palavern zwei ältere Herren auf einer Bank. Nur von ganz Weitem ist noch der Chor aus der Trauerhalle zu hören. Tatsächlich scheint das Nebeneinander hier zu funktionieren. Im Gegensatz etwa zum Friedhofspark Pappelallee in Prenzlauer Berg, wo es schon Ärger gab, weil zwischen den Gräbern Kinder tobten und gegrillt wurde.

Schubert deutet auf besondere Kräuter wie die Osterluzei, ein Heilkraut. Dann stehen wir an einem meterhohen „Baumstumpf“, sonnengebleicht und morsch, bekrabbelt von Ameisen und Käfern. „Auf einem Friedhof in Prenzlauer Berg haben wir in so einem Baum mehr als 200 Arten holzbohrender Käfer gefunden“, sagt Schubert. Er deutet auf einen Baumpilz: „Davon gibt es mehr als 100 Arten.“ Der scheinbar tote Baum ist ein Naturdenkmal, Lebensraum für Tausende Wesen. Friedhöfe sind offenbar lebendiger, als man denkt.

Unter unseren Füßen knirschen jetzt Nadeln und Zapfen. Am Nordrand des Friedhofes stehen Kiefern, die Wiesen werden nur noch ein- oder zweimal im Jahr gemäht, damit sie sich wieder aussähen und Vögel darin brüten können. Es summt um bunte Bienenstöcke. Die Biene sei zwar ein gutes Symboltier für die Stadt, sagt Schubert. „Wenn man sie schützt, tut man auch für andere Arten etwas.“ Doch dürfe man die Wildbienen nicht vergessen, deren Lebensräume Brachen wie diese seien: „Davon gibt es immer weniger.“

Jenseits der Friedhofsmauer dröhnt der Verkehr vom Columbiadamm, doch außer uns hat sich niemand in diese wilde Ecke des Friedhofs verirrt. Wohl auch, weil es hier keinen Eingang gibt. Zwar sei einer geplant, sagt Schubert, „er soll aber nur zu besonderen Gelegenheiten geöffnet werden“.

Zwei alte Gartenstühle stehen einladend im Gras. Jetzt eine Decke, ein Buch, ein paar Kirschen und einfach hierbleiben bis zum Abend … Geht das? Der Friedhofspark könnte genau so etwas werden. An Ideen für das Areal arbeiten derzeit Studenten der Beuth-Hochschule, sagt mir später Pfarrer Klaus-Ekkehard Gahlbeck vom Evangelischen Friedhofsverband Berlin-Mitte. „Ob Park, Wasserrückhaltebecken, Camping, Urban Gardening oder alles einfach zuschließen – alles ist offen.“

Zehn Minuten braucht man aus der Idylle zurück in die Stadt. Am Weg steht ein hundertjähriger Buchsbaum und ich atme noch einmal tief den Kiefernduft ein. Zurück im Lärm am Südstern fühle ich mich wie ein Rückkehrer aus einer anderen, fernen Welt, die doch nur ein Tor entfernt liegt vom Alltag.

Bergmann-Friedhöfe: Mehr erfahren und einkehren

Öffnungszeiten: Bergmann-Friedhöfe, Südstern 8–10, 10961 Berlin-Kreuzberg, geöffnet März.–Okt. 8–20 Uhr, Nov.–Feb. 8–17 Uhr. Lageplan und viel Info gibt es beim Evangelischen Friedhofsverbandes Berlin Stadtmitte: evfbs.de.

Friedhofsnatur: Info und ggf. Führungen auf Anfrage: Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz: bln-berlin.de. Ausführliche Informationen zu den Gräbern, auch zum Mitnehmen und Anhören als App: wo-sie-ruhen.de

Einkehren: Das Café Strauß hat seine (sehr schönen!) Räume in einer ehemaligen Aufbahrungshalle: Bergmannstraße 42, 10961 Berlin, geöffnet s. Friedhof.

Grabmale retten: Wer sich an der Restaurierung eines historischen Grabmals finanziell beteiligten möchte:www.berliner-grabmale-retten.de

Berliner Friedhöfe: Von insgesamt 224 Berliner Friedhöfen sind 186 geöffnet. Mehr dazu auf berlin.de

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Anregungen: Wir freuen uns über Vorschläge zu weiteren Stadtnatur-Themen per E-Mail: stadtnatur@morgenpost.de