Friedrichshain

Nach tödlichem Unfall: Experte kritisiert Pop-up-Radwege

| Lesedauer: 8 Minuten
Christian Latz und Beatrix Fricke

Die Pop-up-Radwege brächten nicht mehr Sicherheit, kritisiert ein Unfallforscher. Das Unfallrisiko erhöhe sich sogar noch.

Berlin. Wieder ein Lkw, wieder beim Rechtsabbiegen: Erneut ist auf diese Weise am Mittwoch eine Radfahrerin auf Berlins Straßen ums Leben gekommen. Ein Lkw-Fahrer überrollte beim Einbiegen von der Petersburger in die Mühsamstraße in Friedrichshain die 62-Jährige mit seinem Laster. Bereits zum achten Mal starb damit in diesem Jahr ein Radfahrer auf Berlins Straßen. Und doch ist der Fall ein Novum: Erstmals kam eine Person unmittelbar an einem der neuen Pop-up-Radwege ums Leben.

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Tödlicher Unfall in Friedrichshain: Pop-up-Radwege bringen an Kreuzungen keine Sicherheit, kritisiert Unfallforscher

Angelegt wurden diese in den vergangenen Wochen, um das Radfahren in Berlin kurzfristig sicherer zu machen. Genau diesen Effekt bezweifelt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. Die breiten, provisorischen Radwege würden Sicherheit für Radfahrer nur vorgaukeln. Zwar seien Radfahrer so schneller und komfortabler unterwegs, „aber sie geben auf die Kernfrage gar keine Antwort: Wie mache ich die Kreuzungen und Einmündungen sicherer.“

Über zwei Drittel der Unfälle, so Brockmann, fänden nicht auf freier Strecke sondern an Kreuzungen und Grundstückseinfahrten statt. Die blieben bei den provisorischen Radwegen unberücksichtigt. Gelöst werden könnte das Problem nur mit einem Umbau von Kreuzungen und geänderten Ampelschaltungen. Sein Urteil: „Der Pop-up-Radweg ist nicht a priori ein Gewinn.“ Gerade dadurch, dass die neue Infrastruktur zusätzliche Radfahrer anziehe, erhöhe sich das Unfallrisiko.

Auch in der schnellen Einführung der Strecken sieht der Unfallforscher ein Problem. Es führe dazu, so Brockmann, dass die Sicherheit hintenanstehe. „Bei den Pop-up-Radwegen gibt es keine ausreichende Sicherheitsabwägung.“ Damit man die kritischen Punkte der Planung erkenne, brauche es etwa zunächst eine Messung der Verkehrsströme.

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Senatsverkehrsverwaltung weist Kritik an Pop-up-Radwegen zurück

Die Senatsverkehrsverwaltung weist die Kritik des Unfallforschers entschieden zurück. „Die Polizei ist selbstverständlich bei jeder Einrichtung eines Pop-Up-Radwegs beteiligt worden, um gemeinsam mit der Straßenverkehrsbehörde Sicherheitsaspekte der jeweiligen Örtlichkeit zu berücksichtigen“, sagte Sprecher Jan Thomsen. Situationen an Kreuzungen und Einmündungen änderten sich durch die provisorischen Radfahrstreifen nur insofern, als die Sichtbeziehungen jeweils deutlich besser werden. „Das bedeutet jedoch nicht, dass im Straßenverkehr keine Gefahren mehr herrschen.“

Zwar begutachtete die Abteilung Verkehrsmanagement die Stelle bereits am Mittwoch, ein Ergebnis liege jedoch noch nicht vor. Auch die Berliner Polizei konnte auf Anfrage keinen neuen Ermittlungsstand mitteilen.

Petersburger Straße wird noch in diesem Jahr komplett umgebaut

Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamts Friedrichshain-Kreuzberg und Initiator der Pop-up-Radwege, war ebenfalls nach dem Unfall am Mittwoch vor Ort. Die harsche Kritik an den Pop-up-Radwegen kann er nicht nachvollziehen. „Es ist vollkommen klar, dass wir mit den temporären Radverkehrsanlagen nicht alle Themen der Sicherheit vollständig bearbeiten können. Wir erhöhen aber die Sicherheit auf der Strecke.“ Prozentual habe sich die Gefahrenlage auf der Straße dadurch bereits verringert.

Den Unfall nehme der Bezirk zum Anlass, gemeinsam mit der Verkehrsverwaltung zu prüfen, ob kurzfristig am Kreuzungsbereich oder der Ampelschaltung etwas geändert werden könne. Ohnehin beginne jedoch noch in diesem Jahr der richtige Umbau der Petersburger Straße. „Die ganze Straße wird komplett in ihrem Querschnitt und ihrer Kreuzungsgestaltung verändert“, so Weisbrich.

Mahnwache und Fahrraddemo am Unfallort in Friedrichshain

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Berlin stellte am Donnerstag an der Unfallstelle ein weißes Geisterrad auf. Um 17.30 Uhr lud die Initiative Changing Cities zu einer Mahnwache ein.

"Heute versammeln wir uns leider erneut zur #Mahnwache für eine durch einen Lkw getötete Radfahrerin. Unser tiefes Mitgefühl aus gilt den Angehörigen. #VisionZero", twitterte die Initiative am Donnerstagnachmittag.

Tödlicher Unfall in Friedrichshain ereignete sich beim Rechtsabbiegen

Die Ermittlungen zur Unfallursache dauern an. Nach derzeitigem Ermittlungsstand befuhr am Mittwoch ein 58 Jahre alter Lkw-Fahrer die Petersburger Straße in Richtung Landsberger Allee. Als er gegen 11.45 Uhr rechts in die Mühsamstraße abbiegen wollte, erfasste er dabei die 62 Jahre alte Radfahrerin, die die Petersburger Straße in dieselbe Richtung befuhr. Die Fahrradfahrerin erlitt so schwere Verletzungen, dass sie noch am Ort verstarb. Fotos vom Unfallort zeigen das völlig zerstörte Fahrrad unter dem Betonmischer.

„Wir haben drei weitere Personen rettungsdienstlich versorgt und eine davon in eine Klinik transportiert“, teilte die Feuerwehr auf Twitter mit.

Der Fahrer des Betonmischers erlitt einen Schock und wurde mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht, wo er ambulant behandelt wurde. Die Petersburger Straße in Richtung Prenzlauer Berg war bis ca. 15.30 Uhr gesperrt.

Die Pressemitteilung der Berliner Polizei zum tödlichen Unfall der Radfahrerin in Friedrichshain im Wortlaut lesen Sie hier.

Eine Google Map zeigt, wo genau sich der tödliche Unfall in Berlin-Friedrichshain ereignete.

Unfall in Friedrichshain: 2020 schon acht Radfahrer gestorben

Erst am 19. Mai war ein 47 Jahre alter Fahrradfahrer in Berlin-Hohenschönhausen bei einem Unfall von einem Lastwagen überrollt und getötet worden. Der Radfahrer fuhr auf dem Radweg an der Rhinstraße Ecke Landsberger Allee. Neben ihm war ein 49 Jahre alter Lastwagen-Fahrer in derselben Richtung unterwegs. Der Lkw bog rechts auf die Landsberger Allee ab, erfasste dabei den Radfahrer und überrollte ihn, so die Polizei. Der Radfahrer starb noch am Unfallort.

Am 17. Mai starb ein Radfahrer, als er im Volkspark Friedrichshain querfeldein von einem Berg hinunter fuhr, stürzte und sich das Genick brach.

Seit Jahresanfang sind in Berlin acht Radfahrer bei Verkehrsunfällen getötet worden. Eine Übersichtskarte des ADFC zeigt die Berliner Unfallorte auf einer Karte.

Tödliche Unfälle mit Radfahrern in Berlin im Überblick

  • 8. Januar 2020: Eine 68 Jahre alte Radfahrerin wird bei einem Zusammenstoß mit einem Lkw am Kottbusser Tor in Kreuzberg tödlich verletzt.
  • 19. Januar 2020: Eine Radfahrerin in Johannisthal wird vom Fahrer eines BVG-Busses beim Rechtsabbiegen überfahren und unter dem Bus eingeklemmt. Sie erleidet so schwere Verletzungen, dass sie noch an der Unfallstelle verstirbt.
  • 31. Januar 2020: Eine 79 Jahre alte Radfahrerin wird in Tegel von einem Sattelzug erfasst, der in die Auffahrt zur Autobahn A 111 einbiegt. Sie verstirbt am 3. Februar an den Folgen ihrer schweren Verletzungen.
  • 2. Februar 2020: Ein 53 Jahre alter Radfahrer stürzt in Friedrichshagen beim Befahren eines Gehwegs und zieht sich dabei so schwere Kopfverletzungen zu, dass er noch am Unfallort verstirbt.
  • 7. Februar 2020: Ein 64 Jahre alter Radfahrer wird von einem BMW erfasst und auf die Fahrbahn geschleudert. Der schwerstverletzte Radfahrer wird nach einer Reanimation in ein Krankenhaus gebracht, in dem er später verstirbt. Der BMW soll beim Überholen ins Schlingern geraten und dadurch auf die Busspur geraten sei, wo er den Radfahrer von hinten angefahren haben soll.
  • 4. Mai 2020: In Tiergarten stürzt eine 50 Jahre alte Radfahrerin und erleidet dabei schwere Kopfverletzungen. Sie soll mit dem rechten Pedal an den Bordstein gekommen sein und dadurch die Kontrolle über ihr Fahrrad verloren haben. Am 10. Mai stirbt sie an ihren Verletzungen.
  • 18. Mai 2020: Ein 47 Jahre alter Radfahrer wird in Lichtenberg an der Landsberger Allee von einem abbiegenden Lkw erfasst. Er verstirbt noch am Unfallort.

Insgesamt 26 Menschen im Straßenverkehr getötet

Damit wurden seit Jahresbeginn laut Polizeistatistik 26 Menschen im Straßenverkehr getötet: Neun Fußgänger, acht Radfahrer, fünf Motorrad- oder Rollerfahrer, zwei Autoinsassen und zwei sonstige Verkehrsteilnehmer. Im vergangenen Jahr kamen 40 Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben. Darunter stellten die Fußgänger die größte Gruppe (24).

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