Der Journalist Peer Teuwsen hat kürzlich von den drei „Lügensystemen“ geschrieben, die Ines Geipels Leben prägten: die Familie, die DDR und der Sport. Der Großvater der 1960 in Dresden geborenen Geipel war bei der SS, ihr Vater Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, er misshandelte seine Kinder schwer. Der Mutter bescheinigten die Stasi-Spitzel große Fügsamkeit und einen „klaren Klassenstandpunkt“.
Als Spitzensportlerin bekam Ines Geipel die erbarmungslose Härte der sozialistischen Diktatur am eigenen Leib zu spüren. Nachdem sie sich 1984 in einem Trainingslager in Mexiko-Stadt in einen mexikanischen Geher verliebt hatte, geriet sie ins Fadenkreuz einer „Operativen Personenkontrolle“ der Stasi, die in einer medizinisch nicht erforderlichen Bauchoperation gipfelte, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Ines Geipel flüchtete im August 1989 über Ungarn aus der DDR. Sie war entscheidend an der Aufklärung des DDR-Staatsdopings beteiligt. Dass der Bundestag zwei Dopingopfer-Hilfsgesetze verabschiedete, ist auch ihr Verdienst. Als Publizistin befasste sie sich mit den Folgen des Nationalsozialismus sowie der DDR und der unterdrückten Literatur im SED-Staat – unter anderem. Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und Professorin für Verskunst an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.
Zuletzt erschien ihr Buch „Schöner Neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens“ (Klett-Cotta), das sich mit Menschenexperimenten im Dienste der sozialistischen Raumfahrtprogramme befasst.
Das Porträt entstand um 1962. Ines Geipel wuchs im Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch auf, „und da war es Tradition, jedes Jahr zum Fotografen zu gehen“. Ihr Vater wurde 1972 zum Direktor des Dresdner Pionierpalastes „Walter Ulbricht“ ernannt und arbeitete ab 1973 als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Dabei ging es um die Vorbereitung von Sabotageakten in der Bundesrepublik. Die Mutter arbeitete am Institut für Weiterbildung in Dresden.
Ines Geipel erinnert sich an die „notorischen Ostsee-Urlaube“ mit ihrer Familie. Das Bild zeigt sie mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Robert (im Hintergrund), genannt Robby. Zusammen mit ihm erlitt sie die gewalttätigen Exzesse des Vaters. Robby studierte Kunst, wurde Kunstlehrer und erkrankte 2017 an einem Hirntumor, dem er 2018 erlag. In ihrem Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Klett-Cotta) schildert Ines Geipel ihre Besuche an seinem Krankenbett und reflektiert den gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit – aus persönlicher Perspektive.
Auf einem Sportfest in Köln, 1982 – zwei Jahre bevor Ines Geipel ins Fadenkreuz der Staatssicherheit geriet. Im Sprint verlor sie gegen die Jamaikanerin Merlene Ottey. Bei den Sportfesten herrschte nicht so ein erbarmungsloser Druck wie bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen. „Die größeren Sachen waren immer viel strenger“, sagt Ines Geipel. Dann wurde alles kontrolliert. In Mexiko wollte sie unbedingt die Pyramiden sehen und das Anthropologische Museum, „aber das war einfach nicht vorgesehen“.
Anfang der 2000er-Jahre traf Ines Geipel die Philosophin Eva Meyer in Rheinsberg: „Ich habe ihr Werk immer sehr bewundert und frage mich schon seit längerem, wo sie eigentlich steckt. Ich fand sie immer sehr präzise im Hinblick auf die Wahrnehmung, die Sprache und den Körper – all die Themen, die dann auch meine geworden sind. Man kann sie so eine Art Lehrmeisterin von mir nennen.“
Um das Jahr 2000 mit dem jüdischen Kunstsammler Carl Laszlo. Mit dem Holocaust-Überlebenden fuhr sie nach Buchenwald. Laszlo war das Lager aufgrund seiner Veränderungen fremd geworden: „Hier war ich nie“, sagte er. Laszlo brachte ihr viel darüber bei, wie man durch seine Sammlung mit der ganzen Welt verbunden sein kann: „Er hat unwahrscheinlich viel in sich zugelassen, was Ästhetik angeht.“ Sie war begeistert von seiner Energie: „Diese Selbstbehauptung des Ichs trotz des Terrors, das fand ich im Licht seiner Biografie ungeheuer eindrucksvoll.“ Laszlo starb 2013 in Basel.
Dieses Bild entstand im ungarischen Grenzort Kópháza, von dem aus Ines Geipel 1989 die Flucht antrat. Für den „Tagesspiegel“ fuhr sie viele Jahre später noch einmal dorthin, um eine Reportage zu schreiben – für sie eine „ordnende Erfahrung“. Ihr wurde klar, mit welchem Angstgepäck sie damals ihr Geburtsland verlassen hatte, wie sehr es ihre Wahrnehmung beeinflusst hatte. „Zurückzukehren und zu sehen: Das ist kein großer, beängstigender Wald, das sind eigentlich liebliche Weinberge: Das war wichtig für mich“, sagt sie. Sie traf auch die Wirtin noch einmal, die sie 1989 aufgenommen hatte, und bedankte sich. „Das war ein toller Moment, diesen Ort wiederzufinden. Ein guter, starker Sommermoment.“
2011 erhielt Ines Geipel aufgrund ihrer Verdienste um die Aufklärung des DDR-Staatsdopings den DJK-Ethik-Preis des Sports, die Laudatio hielt Joachim Gauck: „Er war sehr würdigend im Hinblick darauf, dass ich diesen symbolischen Vatermord begangen und mich für die Opfer stark gemacht habe.“ Sie denkt gern an die kraftvolle Laudatio des begnadeten Redners zurück. Zuletzt wurde bekannt, dass Ines Geipel mit dem Erich-Loest-Preis 2023 ausgezeichnet wird. „Als engagierte und streitbare Stimme im Bemühen, die Wirkungsmechanismen von Diktaturen zu durchleuchten, ist sie eine Preisträgerin, wie sie Erich Loest gefallen hätte“, heißt es in der Begründung.