Berlin. Michael Sendsitzky fuhr in der DDR Kähne über die Spree. In Kreuzberg durfte er erst Jahre später an Land.

Michael Sendsitzky durfte dort sein, wohin nur wenige Bürger der DDR gelangten. Sein Arbeitsplatz war meist westlicher der Berliner Mauer als der westlichste Posten der Grenzsoldaten, weshalb sie ihn nie aus den Augen ließen – und in Zweifelsfragen kurzerhand die Maschinenpistole in Anschlag brachten. Nach dem 9. November 1989 ging für ihn in Erfüllung, was er auf langen Schiffsfahrten unter den Brücken Berlins immer erträumt hatte: Einmal auf jener ersehnten Seite der Stadt zu stehen, der er jahrelang täglich zum Greifen nahe gekommen war.

Es sind Erinnerungen, so spektakulär – oder normal –, wie sie Hunderttausende Berliner erzählen könnten. Von 1969 bis 1976 bewegte der heute 66-jährige Sendsitzky Kähne über die Spree und ihre Zufahrtswege. Die Last in den „Prähmen“, den Ladeflächen, die er mit einer Kilowattstarken Schubmaschine über die regionalen Gewässer beförderte, waren etwa Kohle für das Heizkraftwerk Klingenberg, feiner Sand aus Königs Wusterhausen oder kanadischer Weizen, der in Rostock angeliefert worden war.

Wenig Lust auf Marxismus-Leninismus

Daheim in seinem Geburtsort Cottbus, wo er mit vier Geschwistern aufwuchs, war ihm als Grundschüler einmal Walter Ulbricht auf der Straße begegnet. Der Staatsratsvorsitzende hatte einer Schule am Ort feierlich den Namen des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin verliehen. „Ich weiß auch nicht, was über mich kam“, sagt Sendsitzky, „aber ich beschloss, zu ihm zu gehen, um ihm mein Pioniertuch umzubinden.“ Rückblickend betrachtet der Pensionär seine Begegnung eher mit Unbehagen. „Leider habe ich es damals versäumt, das Tuch richtig feste zuzuziehen“, sagt er und lacht bitter.

Einen Artikel von damals und Mauersteine hat sich Sendsitzky gerahmt
Einen Artikel von damals und Mauersteine hat sich Sendsitzky gerahmt © Maurizio Gambarini | Maurizio Gambarini

Für die DDR-Medien jedenfalls war die spontane Geste besser als jeder inszenierte Propaganda-Coup. Der Schnappschuss jenes Moments, als der Pionier dem SED-Chef artig ein Tuch am Hals drapiert, erhielt einen besonders auffälligen Platz in der nächsten Ausgabe des „Neuen Deutschland“. Dabei hatte schon der junge Michael für den Sozialismus offenbar wenig Sympathie. Sein Vater zählte zu den allgegenwärtigen Kampfgruppen der Arbeiterklasse. „Das war eine Freiwilligen-Armee, die auch in den Mauerbau eingebunden wurde“, sagt Sendsitzky.

Es dem Vater gleich zu tun und Leninismus-Marxismus zu studieren, erschien dem Sohn wenig reizvoll. Freiheit fernab der Eltern versprach da eine Ausbildung als Matrose der Binnenschifffahrt. „Lieber noch wäre ich in die Hochseefischerei gegangen, um mal die Welt jenseits der DDR kennenzulernen“, sagt Sendsitzky. Doch sein Anliegen wurde abgelehnt. „Aus kaderpolitischen Gründen, hieß es.“

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    So blieb es bei Touren für den VEB Deutsche Binnenreederei durch Berlin. „Da ging es etwa vom Osthafen zur Friedrichstraße – das waren streng abgesperrte Bereiche, mit Brücken, unter denen nachts ein Eisentor geschlossen wurde.“

    Westler mit Hang zu melancholischem Humor

    Wenn er zum östlichen Ufer blickte, sah er Zäune, Grenzer, Hunde und die Mauer. Stand der Wind ungünstig, trieb man unweigerlich ganz nah heran ans Westufer. „Aber schneller als ich gucken konnte, war dann immer ein Grenzboot an unserer Seite, Soldaten mit vorgehaltener Maschinenpistole, die uns davon abhalten wollten, ja nicht von Bord zu springen.“ Immer, wenn er an der Oberbaumbrücke vorbeifuhr, erwartete ihn dort dieses Schild, das wohl ein Westler mit Hang zu melancholischem Humor auf Kreuzberger Seite aufgestellt hatte und das Sendsitzky nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: „Zum Mond geht’s schneller“, stand darauf.

    Es musste also genau diese Überführung sein, die Sendsitzky nehmen wollte, um sich am 10. November 1989 einmal den Westen näher anzuschauen. Am Abend davor hatte er den Mauerfall mit Frau Gisela in Lichtenberg am Fernseher verfolgt. Weil ihr Gedränge widerstrebt, schickte sie ihren Mann allein los. „Auf der Brücke ging es nun mit Zehntausenden Anderen durch eine ganz enge kleine Tür. Ich weiß gar nicht, wie ich bis ganz nach vorn gelangt bin. Und dann nichts wie rein in die U-Bahn, zum Kurfürstendamm, all’ die schönen Dinge anschauen, die Geschäfte, einmal eine Packung Kaffee kaufen, in der Tasche das Begrüßungsgeld aus der Deutschen Bank nahe Ernst-Reuter-Platz“, erzählt er.

    „Mein Leben liegt in einem historischen Zeitraum“, sagt Sendsitzky heute. „Das ist ein großes Glück.“ Gisela Sendsitzky sieht das ebenso. Auch wenn sie am späten Morgen des 11. November 1989, als ihr Mann nach seiner Tour müde zurückkehrte, von dem, was er von drüben mitbrachte nicht recht überzeugt war. „Er hatte eine Tüte Westbrötchen dabei. Und ich dachte nun Wunder, wie herrlich die schmecken würden“, sagt sie und lacht. „Doch am Ende waren sie pappig und furchtbar mehlig. Insgesamt: Eine Enttäuschung.“

    Der Zirkeltag 1961 - 1989 - 2018

    Termin: Der 5. Februar 2018 ist „Zirkeltag“. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Berliner Mauer genauso lange nicht mehr steht, wie sie von 1961 bis 1989 die Stadt teilte: 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage.

    Erinnerung: Die Berliner Morgenpost und der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) haben Erinnerungen von Berliner Zeitzeugen an jene Periode zusammengetragen. Die Berliner Morgenpost veröffentlicht dazu am 5. Februar eine Sonderbeilage. Die RBB-Abendschau berichtet bis zum 5. Februar jeweils ab 19.30 Uhr täglich von damals, ebenfalls in zahlreichen Interviews. Am Zirkeltag selbst stehen die historischen Ereignisse im Mittelpunkt des gesamten RBB-Programms in TV, Radio und online.

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