Berlin. Die Familie lebte mitten in Neukölln, dann deportierten die Nazis sie nach Auschwitz. Ihre Angehörigen wollen an sie erinnern.
Nur wenige Schritte von der Sonnenallee und dem Hermannplatz entfernt, wo es im Oktober nach dem Terrorangriff der Hamas noch zu Ausschreitungen kam und antisemitische Parolen gerufen wurden, lässt der Pflasterer drei messingbeschlagene Quader in den Gehweg ein. Die goldglänzenden Stolpersteine erinnern von nun an jeden, der die Friedelstraße 7 in Berlin-Neukölln passiert, an das jüdische Ehepaar Willy und Paula Michaelis sowie ihren Sohn Lothar. Die Familie wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert, keiner von ihnen kehrte zurück.
Milana Müller, die mittlerweile in Dresden lebt, und ihr Vater Manfred haben die Steine mit Unterstützung des Museums Neukölln gestiftet. Sie sind wohl die letzten lebenden Verwandten der Familie Michaelis: Willy Michaelis und Manfred Müllers Großmutter Johanna waren Geschwister. Auch Johanna wird 1941 von den Nazis deportiert und später ermordet. „Ich habe meiner Mutter versprochen, sie niemals zu vergessen“, sagt der Berliner Manfred Müller.
Antisemitische Ausschreitungen in Neukölln
Angesichts der Ereignisse der letzten Wochen bekommt die Stolpersteinverlegung noch eine andere Bedeutung. Am 7. Oktober waren Hamas-Terroristen nach Israel eingedrungen und hatten mehr als 1.200 Zivilisten brutal ermordet. Im Anschluss kam es in Neukölln zu Ausschreitungen pro-palästinensischer Demonstranten, auf die Synagoge in der Brunnenstraße wurden Molotowcocktails geworfen und an von Juden bewohnten Häusern waren Davidsterne aufgetaucht. Umso dringender erscheint es daher heute, an Schicksale wie das der Michaelis zu erinnern.
Die Friedelstraße 7 war die letzte freigewählte Adresse der Familie. Hier lebte sie bis 1941, bevor sie zwangsweise nach Charlottenburg umziehen musste. Im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion, einer Razzia im Februar 1943, wurde ein Großteil der noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden – die vor allem als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie beschäftigt waren – verhaftet und in verschiedenen Gefangenenlagern interniert.
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Unter den rund 11.000 Festgesetzten in Berlin waren auch Willy, Paula und Lothar Michaelis. Paula Michaelis wurde danach vermutlich in der Synagoge in Berlin-Moabit gefangen gehalten. Am 3. März 1943 wurde Lothar Michaelis mit dem 33. Transport nach Auschwitz deportiert. Am 4. März 1943 folgten seine Eltern mit dem 34. Transport. Willy Michaelis war damals 59, Paula Michaelis 61 und Lothar 22 Jahre alt. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
Recherche der Familiengeschichte
Manfred Müller selbst hat keine bewussten Erinnerungen an Willy, Paula oder Lothar. Aber weil ihm ihre Geschichte sehr nahegeht, wollte er wissen, was genau während der Nazizeit mit ihnen passiert ist. Nach der Wende begann der studierte Diplom-Ingenieur deshalb zu recherchieren. Mithilfe des Museums Lichtenberg konnte er die Geschichte seiner Verwandten näher erforschen und schließlich zusammen mit seiner Tochter die Stolpersteine stiften.
Bei deren Verlegung haben sich an diesem Mittwoch etwa 25 Menschen in Neukölln versammelt, um an die Familie zu erinnern. Auch Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) ist gekommen und lauscht andächtig der Klarinettistin mit palästinensischen Wurzeln, die die Zeremonie mit Klezmer-Musik begleitet. Auf Fotos, die vor Ort gezeigt wurden, ist Lothar Michaelis einmal mit seinem Vater, einmal mit Manfred Müllers Bruder zu sehen; die Eltern sieht man im Kreise von Verwandten vor einem Weihnachtsbaum. Als Manfred Müller von seinem Großonkel Willy und dessen Familie erzählen will, bricht ihm die Stimme: „Ich habe meinen Vater oft gefragt, ob sie nicht wenigstens Lothar hätten retten können. Aber meine Eltern hatten selbst zwei kleine Kinder und es gab keine Möglichkeit, ihn zu verstecken.“
Wunsch nach „Frieden für alle“
Milana Müller plädiert in ihrer kurzen Ansprache vor allem angesichts der angespannten Weltlage und der Situation im Nahen Osten für „Frieden“. Es sei „sehr wichtig, dass wir uns dafür einsetzen, dass so etwas nie wieder passiert“, sagt Milana Müller. Die Stolpersteinverlegung endet mit einem von allen Anwesenden gemeinsam gesungenen Wunsch nach „Frieden für alle“ zu Ende.
