Berlin. Berlins mutmaßlich älteste Fassadenwerbung wirbt für die Morgenpost. Was das „Neue Deutschland“ damals dagegen hatte.
Wer regelmäßig mit dem Auto über die Schöneberger Westtangente fährt oder in der Wannseebahn gleich daneben sitzt, kennt sie: die Reklamewand, die von einem Gründerzeit-Haus etwas erhöht in der Wielandstraße herunterleuchtet. Flächendeckend auf eine Brandmauer gemalt, vom Erdgeschoss bis hinauf knapp unter den vom gusseisernen Geländer eingefassten, kleinen Freisitz auf dem Dach. „Berliner Morgenpost“ steht dort in großen Lettern.
Ab Spätherbst, wenn die Bäume davor den Blick wieder freigeben, sind noch zwei Zeilen darunter zu lesen: „Größte Auflage aller deutschen Zeitungen“. Alles in Frakturschrift. Das Haus steht dort seit 1896. Leopold Ullstein gründete die Morgenpost im Jahr 1898. So lässt das altdeutsche Schriftbild – auf den ersten Blick jedenfalls – die Frage aufkommen: Haben wir es hier also mit einer Botschaft aus der Kaiserzeit zu tun, irgendwann aus den Anfangsjahren der Zeitung?
Die Morgenpost-Brandmauer ist eine ganz besondere, selbst unter den heute nur noch wenigen ihrer Art aus dem letzten Jahrhundert in Berlin. Bücher und Fotoalben spüren diese haushohen Werbebotschaften in Berlin für die Nostalgiker auf, bewahren sie der Nachwelt, die für neue Wohnungen die in den Bombennächten geleerten Baugrundstücke nach und nach wieder vollstellt, und so die alten Trennwände wieder unsichtbar macht. „Bendzko-Immobilien“, „Jägernummer“, „Möbel-Hübner“ – sie alle konnten im alten West-Berlin davon ausgehen, dass ihre Reklamewände erstmal unverbaut blieben. Und so sind die alten Reklameflächen durchweg aus der frühen und mittleren Nachkriegszeit.
Morgenpost-Reklamewand dürfte älteste von Berlin sein
Das ist anders bei der Morgenpost-Wand in Friedenau. Die Brandmauer dort lag immer offen, und man fragt sich, warum sie überhaupt so rigoros fensterlos blieb. Als das Haus gebaut wurde, dampfte die Wannseebahn schon über 20 Jahre daran vorbei, dazwischen auch noch eine Böschung, so dass ein weiteres Haus davor undenkbar war, von Anfang an unverbaubar. Wie gemacht also für den Blickfang. Auch dies ist ein Grund dafür, dass die Morgenpost-Reklamewand die mit Abstand älteste von ganz Berlin sein dürfte. Aber wie alt ist sie?

Die Farbe selbst ist jünger, als der Schriftzug nahelegt. Irgendwann zwischen den späten 1970er- und den frühen 90er-Jahren wurde die etwas vergilbte Wand restauriert, neu, aber deckungsgleich gemalt. Dies zeigt ein Vergleich des heutigen Zustands mit früheren Fotos und einer Malerei aus dem Jahr 1979. Auch dies eine Besonderheit: Welche museale Reklamewand wird schon restauriert?
Weder der Verlag noch der heutige Hausbesitzer haben darüber Unterlagen oder Informationen. Einer der Vorbesitzer dürfte die Maler bestellt haben, um seine Liegenschaft wieder zum Leuchten zu bringen. Unter Denkmalschutz steht die Wand nicht, ein Denkmal der Kulturgeschichte der Werbung ist sie allemal. Jenes Ölbild, das sie zum Motiv hat, ist – zufällig, aber pünktlich zum 125. Geburtstag der Zeitung – in einer Ausstellung über die Malerin Brigitte Krüger zu sehen, in der Galerie Salon Halit Art, Kreuzbergstraße 72, vom 15. bis 29. September.
„Neues Deutschland“ führte regelrechten Feldzug gegen die Groß-Werbung
So einzigartig diese eine Wandreklame heute ist, so wenig war sie dies in der Vorkriegszeit, als die „größte Auflage“ der Morgenpost allerorten zum Berliner Stadtbild gehörte und in unzähligen Ortschaften der weiten Mark Brandenburg an den Fernstraßen von Haus- und Scheunenwänden, Fabrikmauern und Lagerhallen grüßte. Dies auch nach dem Krieg noch, als die liberale Morgenpost dort längst verboten und man dem kommunistischen „Neuen Deutschland“ und an deren Blättern mit identischen Inhalten ausgeliefert war. Vorbeifahrende und Passanten wurden so täglich an bessere Zeiten erinnert, und an die „Mottenpost“, als die sie – liebevoll-ironisch – im Berliner Umland noch bestens bekannt war, auch noch aus den 1920er-Jahren, den letzten freien Zeiten.
Die Verbreitung der Morgenpost-Reklamewände in der DDR bis weit nach dem Mauerbau ist ausführlich dokumentiert in Dutzenden Artikeln im Neuen Deutschland. Die SED-Parteizeitung führte über mehrere Jahre einen regelrechten Feldzug gegen die Groß-Werbung für das damals zu dem von der Partei so verhassten Springer-Verlag gehörende Blatt, insbesondere nach dem Mauerbau. „Springers anachronistische Sichtwerbung muss aus dem ganzen Land verschwinden!“, hieß es da, „wann klopft ihr dem Springer endlich auf die Finger?“
Die Hartnäckigkeit der Bemühungen zeugt von verhaltenem Erfolg der Kampagne. Endlich gab es wenigstens mal Vorbereitungen, in Treptow, zur Freude der Ost-Zeitung: „Ein freistehendes Gerüst wurde herbeigeschafft, jetzt am Wochenende soll es aufgestellt werden. Die PGH Malerei Treptow verpflichtete sich, am Montag die Morgenpostreklame mit Latexfarbe endgültig zu beseitigen.“ Baugerüste waren Mangelware zu der Zeit. Und so reagierte das „ND“ – wohl zurecht – erstmal skeptisch auf hier und da getätigte ähnliche Ankündigungen: „Wir hoffen, dass die Einwohner von Breddin, Kreis Kyritz, inzwischen genauso handelten. Eine Nachricht steht noch aus.“
Die Frakturschrift sagt nicht viel über das Alter aus
Die Angelegenheit war ein Dauerbrenner. Ende 1968 hieß es im SED-Blatt mahnend: „Im Rat der Gemeinde Teschendorf ist man sich seit 20 Jahren einig, dass Hauswände mit der schreienden Aufschrift ‚Berliner Morgenpost – Größte Auflage aller deutschen Zeitungen‘ schlecht in unsere sozialistische Landschaft passen. Doch im umfangreichen Verschönerungsprogramm des Dorfes zum 20. Jahrestag ist nichts vorgesehen.“ Gemeint war der 20. Jahrestag der DDR-Gründung.
Nach und nach verschwanden dann doch fast alle Reklamewände der Zeitung in Stadt und Land – bis auf die am Haus in Friedenau. Ihr Alter lässt sich nicht genau bestimmen. Die Frakturschrift sagt darüber nichts aus, sie war in der Kaiserzeit wie in den Weimarer Jahren populär. Vielfach wird sie besonders mit dem „Dritten Reich“ in Verbindung gebracht, doch bei den Nazis, auch bei Hitler persönlich, stieß sie eher auf Ablehnung.
Dass die Morgenpost auf den Brandwänden mit ihrem Namen in Fraktur warb, ist eher verwunderlich. Obwohl sie – wie die meisten der offiziell nicht an die NSDAP gebundenen Blätter – bis 1945 in ihren Texten an der Schrift festhielt, war gerade sie seit ihrer Gründung eine der wenigen Zeitungen, die ihr Logo auf Seite eins nicht in Fraktur, sondern in modernen Lettern schrieb. Die großen Verlage hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg erkannt, dass die Fraktur die internationale Verbreitung ihrer Presse behinderte, doch blieben sie weitgehend, bis auf die Wirtschaftsseiten, bei der altdeutschen Schrift, aus Angst, ihre Stammleser zu verprellen.
Wenige Jahre nach Gründung stand die Morgenpost an der Spitze
Bleibt als Anhaltspunkt für das Alter die Zeile „Größte Auflage aller deutschen Zeitungen“? Nur ein vager, erfreute sich die Morgenpost doch die gesamte Weimarer Zeit hindurch dieser Spitzenstellung, die nach 1945, als die überregionale Presse aus der isolierten Halbstadt nach Frankfurt und Hamburg zog, nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Nur wenige Jahre nach ihrer Gründung hatte sich die Morgenpost an die Spitze aller Tageszeitungen gesetzt. Ihr erster Chefredakteur Arthur Brehmer begründete eine Zeitung neuen Typs, der nicht wie die anderen nur auf Nachrichten, sondern auf die Vorlieben der Leser setzte: Lokale Themen, Verbrechen, Unterhaltung, hintergründige Reportagen, Technik und Natur, Illustrationen. Auch auf politische Positionierung („Parteinahme, nicht Parteigänger“). Als Brehmer, der stets am Caféhaus-Tisch arbeitete, nach zwei Jahren das Blatt verließ, betrug die Auflage bereits 216.000. In den 1920er-Jahren lag sie meist zwischen 400.000 und 620.000 (1930). Das war jeweils etwa das Doppelte der konkurrierenden Blätter. Das allerdings passte dann nicht mehr auf die Reklamewand.