Komödien-Chef Martin Woelffer schreibt zum Morgenpost-Jubiläum über die Anfänge seines berühmten Großvaters Hans Wölffer.

Anlässlich seines 70. Geburtstages erzählte mein Großvater Hans Wölffer einmal, warum er Berliner wurde. Ich habe die Geschichte zum 125. Jubiläum der Berliner Morgenpost etwas ausgeschmückt. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und auf noch viele gemeinsame Jahre, in denen auch wir als Komödie am Kurfürstendamm immer wieder gerne liefern, was zu berichten ist – hoffentlich bald wieder vom Kurfürstendamm aus.

Der Lehrter Bahnhof wirkte beängstigend. So viel Lärm, so viel Qualm, so ein Schubsen und Drängeln. Losverkäufer schrien, Bettler jammerten, Polizisten drohten, schmutzige Kinder heulten, verwundete Soldaten überall, elegante Damen mit Gepäckträgern im Schlepptau beeilten sich, durch das Chaos möglichst schnell hindurch zu kommen und ihr Ziel, die dampfenden und fauchenden Züge, zu erreichen.

Der knapp 14-Jährige, der, von Norden kommend, aus seinem Bahnabteil stieg, fühlte sich ein wenig verloren und war gleichzeitig fasziniert von dem großstädtischen Treiben. Das also war die große Welt. Seine Reise sollte ihn bis nach Danzig führen, wo er seinen Onkel, der dort Ballettmeister war, besuchen wollte. Natürlich ging die Reise von Hamburg nach Danzig über Berlin. Hier endeten alle Bahnlinien in Kopfbahnhöfen.

Eindringlich hatten ihn die Eltern gewarnt vor der Gefährlichkeit Berlins

Kurz hielt er inne. Da stand er nun mitten in diesem Treiben und fühlte sich erstmalig in seinem Leben fast schon wie ein junger Mann. In dem einzigen Anzug, den er besaß, und dem ganzen Stolz seiner gesamten Familie an den Füßen: neue Schuhe, leider nur mit Holzsohlen. Diese hatte man mit viel Glück durch den Erhalt eines Bezugsscheines kurz vor der Reise erstehen können, seine alten waren ihm wenige Tage zuvor beim Baden im Horner Moor gestohlen worden – 1918, im vierten Kriegsjahr, eine Katastrophe.

Eindringlich hatten ihn die Eltern gewarnt vor der Gefährlichkeit der Stadt Berlin. Man hörte und las ja so einiges. Und den kleinen Koffer, den er mit sich trug, dürfe er auf gar keinen Fall aus den Händen, geschweige denn aus den Augen lassen. Nicht, dass er sich wieder bestehlen lasse.

Um zum Nachtschnellzug nach Danzig zu kommen, musste er zum Bahnhof Charlottenburg, also gefühlt einmal zu Fuß durch die ganze Stadt. Der Weg führte ihn vorerst über die Moltke-Brücke, den Königsplatz, an der Kroll-Oper und am Reichstag vorbei, durchs Brandenburger Tor und Unter den Linden entlang.

Ein weibliches Wesen forderte ihn resolut auf: „5 Pfennig!“

Hier waren auf der Mittelpromenade lange Reihen mit Stühlen aufgestellt. Und da er noch viel Zeit hatte und auch erschöpft war, setzte sich der junge Mann mit seinem sorgfältig behüteten Koffer, um sich kurz auszuruhen. Ein weibliches Wesen kam auf ihn zu und forderte ihn resolut auf: „5 Pfennig!“ Natürlich hatte er davon gehört, dass sich Unter den Linden zweifelhafte Damen bewegten, um Liebesdienste anzubieten. Sofort stand er auf und ging weiter, ohne sich auch nur einmal wieder umzudrehen. Auf die Idee, dass die Benutzung der Stühle auf dem Prachtboulevard fünf Pfennig kosten sollten, kam er erst Jahre später und musste dann, ob dieses Missverständnisses, leise in sich hineinschmunzeln.

Um sich die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges in Charlottenburg zu vertreiben und auch um in dieser berühmten Stadt etwas zu erleben, überlegte er hin und her, ob er das bisschen Geld, das er bei sich hatte, für einen Imbiss zu verbrauchen sollte oder aber ins Theater zu gehen. Ganz im Gefühl eines Großstädters, kaufte er sich für 10 Pfennig eine Berliner Morgenpost. Offensichtlich hatte der Reichskanzler Graf Hertling tags zuvor eine lang erwartete Rede gehalten. Doch ein paar Seiten weiter fand er, was er suchte: Theateranzeigen. Unzählige. Schließlich entschloss er sich, das Schiller Theater zu besuchen. Es lag ja auf dem Weg zum Bahnhof Charlottenburg und es wurde immerhin „Alt Heidelberg“ gegeben.

Doch schon nach Vorzeigen seiner Eintrittskarte, beim Eintritt ins Foyer, trat ein Logenschließer mit Frack und weißen Haaren auf ihn zu: „Mit dem Koffer kommst du nich ins Theater rin! Dahinten sind die Jarderoben.“

Ein Inspektor wurde hinzugezogen

Es gab eine längere Auseinandersetzung, denn den Koffer konnte der junge Mann, der sich nun wieder etwas kleiner fühlte, ja auf gar keinen Fall aus der Hand geben. Ein Inspektor wurde hinzugezogen. Aber auch dessen Aussage war klar: „Wenn er nich abjeben will, kann er nich rin! Punktum.“

Der junge Mann war verzweifelt. Das Geld war ja nun ausgegeben, der Koffer aber war auf jeden Fall zu beaufsichtigen. Der Logenschließer heuchelte nun etwas Mitleid und wusste hintertrieben Rat: „Na los, jeh schnell rin, mein Junge. It fängt ja gleich los, ick nehm deinen Koffer mit zu mir ins Kabuff. Und die Mottenpost da zum Lesen nehm ick och mit.“

Und schon war er mit dem Koffer verschwunden und da es dringend klingelte, schoben die anderen Theatergäste den Berlinbesucher in den Saal und er setzte sich notgedrungen auf seinen Platz.

Geknickt schlich er aus dem Theatersaal

Es war ein mehr als spannender Theaterabend. Denn mehrere Fragen wirbelten durch seinen Kopf: Was wird nur aus dem Mädchen werden, das sich da auf der Bühne mit diesem Prinzen eingelassen hat? Und, um Gottes Willen, was wird aus dem Koffer? Hatte er sich doch tatsächlich so einfach wieder bestehlen lassen. Wie naiv konnte man nur sein! In Gedanken ging er schon mal das Gespräch durch, in dem er das seinen Eltern beichten musste. Und dann bekam auch noch die Kathy auf der Bühne ihren Prinzen nicht.

Geknickt schlich er aus dem Theatersaal. Doch direkt vor der Tür stand der Logenschließer. „So, hier ist er, dein Koffer. Ick trag ihn dir noch runter, der is ja ville zu schwer für dich!“

Unten, vor dem Theater, lehnte er die dargebotenen 5 Pfennig Trinkgeld, die ja glücklich Unter den Linden gespart worden waren, mit verschmitzt strenger Miene ab: „Nee, meen Kleener, lass ma jut sein. Siehst ja so aus, als könntest du dit Jeld janz jut selber jebrauchen. Hier haste och die Mottenpost wieder. Et war mir eine Freude. Und besuch uns bald ma wieder in unseret schönet Berlin. Jute Reise.“

Es war der 12. Juli 1918

Später, im Liegewagen-Abteil des Nachtschnellzuges nach Danzig, dachte der junge Mann, was doch für nette Menschen in Berlin wohnen.

Es war der 12. Juli 1918. Der Tag, an dem mein Großvater Hans Wölffer beschloss, Berliner zu werden.

Und er wurde Berliner, auch wenn das noch ein paar Jahre dauern sollte. Erst Ende der 1920er-Jahre wurde er von den Gebrüdern Rotters als Dirigent nach Berlin engagiert, an das Theater des Westens und die Kroll Oper. Wenige Jahre später wurde er Theaterdirektor.

Und, so schrieb es der große Theaterkritiker Friedrich Luft zum Tode meines Großvaters Hans Wölffer in der Berliner Morgenpost am 12. Juli 1976, also exakt 58 Jahre nach seinem ersten Besuch in Berlin:

„Er hatte sich, als er begann, sicher nicht träumen lassen, dass er einmal ein König und Herr des hiesigen Unterhaltungstheaters werden sollte.“

Es ist nicht immer nur einfach, als Privattheater zu bestehen

Wie in den Generationen vorher, bei meinem Großvater Hans und bei meinem Vater Jürgen, ist es nicht immer nur einfach, als Privattheater zu bestehen. In meinem Fall kämpfen wir seit Jahren. Erst um den Erhalt der beiden Reinhardt Bühnen, Theater am Kurfürstendamm und der Komödie, dann, nach deren Abriss um den Theater-Neubau an selber Stelle. Getragen werden wir von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Schauspielerinnen und Schauspielern, unseren Erfolgen, von unserer Authentizität und Beliebtheit. Und vor allem von unserem Publikum. So wurde die Komödie am Kurfürstendamm – ebenso wie die Berliner Morgenpost – eine Institution, die nicht aus Berlin wegzudenken ist.

Wir leben von der Notwendigkeit, in dieser Stadt, für diese Stadt, für ihre Bewohnerinnen und Bewohner und die vielen Berlinbesucherinnen und Besucher modernes und gehobenes Unterhaltungstheater zu machen, immer am Puls des Hier und Jetzt. Denn, so noch einmal Friedrich Luft in seinem Artikel über den Tod Hans Wölffers, „... gibt es diesen Bereich in einer Großstadt nicht, ist die Großstadt nicht großstädtisch.“

Die Komödie

Gegründet wurde die Komödie 1924 von Max Reinhardt. Hans Wölffer übernahm Theater und Komödie 1934. 1942 wurden beide Theater verstaatlicht. 1950 wurde Hans Wölffer wieder Direktor der Komödie. Seit 1963 leitete er auch das Theater am Kurfürstendamm. Sein Sohn Jürgen Wölffer führte Komödie und Theater weiter. 2004 übernahm Martin Woelffer die Direktion der beiden Häuser von seinem Vater. Nach dem Abriss von Komödie und Theater 2018 kamen Martin Woelffer und Team zunächst im Schiller Theater unter, seit März 2022 am Potsdamer Platz, weitere Spielorte sind der Heimathafen Neukölln und der Ernst-Reuter-Saal in Reinickendorf. Am Kurfürstendamm wird derzeit ein neues Theater errichtet, das die Komödie am Kurfürstendamm nach der Fertigstellung bespielen wird.