Berlin. Warum man sich um die Morgenpost riss und in Telefonzellen drängelte: Kabarettist Horst Evers erinnert sich – Gastbeitrag.
Jeder weiß, wie unglaublich herausfordernd es geworden ist, heute eine gedruckte Tageszeitung am Leben zu halten. Sobald die Blätter über ihre eigene Branche berichten, geht es meist um Auflagenrückgänge, Übernahmegerüchte oder gar Überlebenskämpfe.
Da mutet es schon unwirklich an, wenn ich mich daran erinnere, wie ich meine erste Berliner Morgenpost gekauft habe. Um 5 Uhr morgens standen wir in recht großen Gruppen frierend vor dem Kiosk. Mit Thermoskanne und Stullenpaket im Rucksack sehnten wir ungeduldig die Auslieferung der neuesten Ausgabe herbei. Die wir dann, als sie endlich eintraf, unter wilder Drängelei und Geschrei erkämpften. Jeder wollte der erste sein. Denn sobald man die kostbaren, begehrten Seiten erstritten hatte, begann zwischen uns der unausgesprochene, aber erbitterte Wettkampf. Wer schaffte es, die frische Zeitung am schnellsten zu lesen?
Ja, so war das damals, Mitte der 1980-er Jahre, in West-Berlin mit den Tageszeitungen. Also zumindest mit der Berliner Morgenpost. Oder, um ganz genau zu sein, der Wochenendausgabe der Berliner Morgenpost. Denn natürlich gehört es auch zur ganzen Wahrheit, dass diese extreme Gier nach der Zeitung nur bei einer bestimmten Klientel herrschte. Der Klientel der Wohnungssuchenden. Welche Mitte der 1980er-Jahre in West-Berlin allerdings gefühlt die halbe Stadt umfasste.
„Der Berliner braucht keine zweite Meinung“

Auch damals war es extrem schwierig, eine einigermaßen akzeptable und bezahlbare Wohnung zu finden. Und der Mietwohnungsannoncenteil der Wochenendausgabe der Berliner Morgenpost galt als der beste, beziehungsweise der erfolgversprechendste der ganzen Stadt.
Das war eine der ersten Lektionen in echtem Berliner Herrschaftswissen, die ich nach meiner Ankunft in der Stadt erhalten hatte. Von einer wohlwollenden Kioskbesitzerin, die mir erst geduldig eine „Zweite Hand“, eine „Zitty“ und den „Tip“ verkaufte und dann, nachdem sie gesehen hatte, dass ich noch im Laden die Mietwohnungsanzeigen aufschlug und leise vor mich hin fluchte, einen vergleichsweise freundlichen Schnellkurs in geheimer Berliner Lebensart gab.
„Junger Mann, nur mal so nebenbei“
Wörtlich sagte sie: „Junger Mann, nur mal so nebenbei. Drei Dinge, die Ihnen vielleicht bei der besseren Eingewöhnung hier helfen könnten.
1. In Berlin gibt es nix zu meckern. Zumindest nicht für Zugezogene. Wer nach Berlin zieht und schon in den ersten fünf Jahren meint, über irgendwas in oder an der Stadt rummäkeln zu müssen, hat es hier leider nicht geschafft und sollte dringend darüber nachdenken, nach wohin auch immer zurückzuziehen.
2. Der Berliner oder die Berlinerin braucht keine zweite Meinung. Und ganz besonders nicht Ihre. Ich weiß, man denkt immer, was man denkt, würde auch andere interessieren. Tut es hier aber in der Regel nicht.
3. Die Mietwohnungsangebote in der Wochenendausgabe der Berliner Morgenpost sind die besten der ganzen Stadt. Ja, sogar der ganzen Welt, denn anderswo werden ja kaum Berliner Mietwohnungen inseriert.“
Diese drei Ratschläge erwiesen sich für mich in der Anfangszeit in Berlin als pures Gold. Wenn auch in umgekehrter Reihenfolge.
„Indiana Horst und die Jagd nach dem versunkenen Altbautempel“
Heute ist die Wohnungssuche ja praktisch immer ein sehr langwieriger, quälender, eher bürokratischer und hoffnungsarmer Akt. Resignierte Suchende klagen meist, man hätte ohne Beziehungen auf dem freien Markt sowieso praktisch keine Chance mehr.
Das zumindest war Mitte der Achtzigerjahre ein wenig anders. Da gab es noch den Weg des Abenteurers bei der Wohnungssuche. Eine Möglichkeit, die mehr einer aufregenden Schatzsuche glich. „Indiana Horst und die Jagd nach dem versunkenen Altbautempel!“ In etwa so fühlte es sich für mich seinerzeit an.
Praktisch mitten in der Nacht wartete man direkt an der Druckerei oder vor einem der sehr früh öffnenden Kioske. Am Bahnhof Zoo zum Beispiel. Dort gab es die Möglichkeit, wenn man es sich leisten konnte, im Pressecafé auf die Zeitungsauslieferung zu warten und eine Strategie zu entwerfen.
Einer bewachte die Telefonzelle, während der andere die Zeitung erkämpfte
Die war notwendig. Denn da es noch keine Handys gab, musste man mindestens zu zweit sein. Einer oder eine bewachte die Telefonzelle, während der oder die andere die Zeitung erkämpfte. Ab da zählte jede Sekunde. Im Laufschritt zur Zelle. Unterwegs schon den Anzeigenteil aufgeschlagen. Diesen hastig überflogen. Um dann dem oder der Verbündeten am öffentlichen Fernsprecher bereits von weitem die erste Telefonnummer zurufen zu können. Die Vielversprechendste. Eine bei der es womöglich nur diesen einen entscheidenden Versuch gab.
Selbstverständlich stand bei vielen Inseraten ausdrücklich: „Nicht vor acht Uhr morgens anrufen!“ Oder Ähnliches. Es war ratsam, diesen Hinweis ernst zu nehmen. Doch immer wieder gab es eben auch diese Geschichten von jemandem, der bei einer absoluten Traumwohnung zum Spottpreis um 4.30 Uhr morgens angerufen hatte, einen Besichtigungstermin um 4.45 Uhr bekam und um fünf den Mietvertrag unterschrieben hatte.
Jeder kannte mindestens einen Menschen, der von jemandem gehört hatte, der von einer wusste, die auf genau diese Art ihre Superwohnung gefunden hatte. Diese Gerüchte waren es, die der Jagd stets die frische Energie der unsterblichen Hoffnung gaben. Die Hoffnung auf das große, goldene Los. Welches jeder erringen konnte. Wenn er es nur wirklich versuchte und keinen Fehler machte. Es war der klassische Berliner Traum. Also der von einer günstigen und großzügigen Altbauwohnung mit unbefristetem Mietvertrag.
Man hatte noch für Jahre was zu erzählen
Wo man dann die Dielen abschleifen konnte. Damit es aber mal so richtig schön ist. Mit dieser Schleifmaschine, die man mietete. Bei irgendwie schon so halbseriösen Maschinendealern. Ein Gerät, das etwas seltsam aussah und auch leider nicht ganz so funktionierte, wie es sollte. Oder vielleicht machte man auch was falsch. Zumindest behaupteten das später die dann schon nur noch achtelseriösen Maschinendealer. In jedem Fall war irgendwann überall dieser Staub. Noch für Jahrzehnte tauchte immer mal wieder was von diesem Staub auf. Teilweise auch weit außerhalb der Wohnung.
Dafür war aber der helle Dielenboden, den man dann letztlich doch von Profis hatte abschleifen und ölen oder klarlackieren lassen, dann doch schon sehr schön. Somit hatte sich schließlich alles gelohnt und man selbst noch für Jahre was zu erzählen.
Und ab und zu, immer seltener zwar, doch manchmal eben schon noch, kommt man in diese Wohnungen mit den sehr, sehr alten und kostbaren Mietverträgen, wo dann tatsächlich etwas unscheinbar im Flur eine gerahmte, aber dennoch natürlich schon recht vergilbte Mietwohnungsanzeige hängt. Aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Anzeige, mit der damals diese ganze Berliner Geschichte der Bewohner angefangen oder zumindest ein neues Level betreten hat. Meistens ist sie aus dem damals besten Mietwohnungsanzeigenteil der ganzen Stadt. Wahrlich ein echtes Stück Berlin.
Mit seinem Programm „Ich bin ja keiner, der sich an die große Glocke hängt“ ist Kabarettist Horst Evers am kommenden Sonnabend, 23. und Sonntag, 24. September bei den „Wühlmäusen“ zu sehen (Pommernallee 2-4, 14052 Berlin).