Berlin. Selten sind die Nachrichten positiv, die das deutsche Gesundheitswesen betreffen. Es mangelt an Ärztinnen, an Pflegern, an Arzneimitteln. Die Krankenkassen hangeln sich von einer Finanzierungslücke zur nächsten und dementsprechend knapp bemessen ist die Zeit, die Ärztinnen und Ärzte für ihre Patienten haben. Wer sich nicht gut im deutschen Gesundheitssystem auskennt oder Sprachbarrieren hat, ist oft aufgeschmissen.
Wie aus einer anderen Welt wirkt da das „Café Praxis“, das Tor zum Stadtteil-Gesundheits-Zentrum im Neuköllner Rollberg-Viertel. Morgens um zehn riecht es dort nach frisch gebackenen Zimtschnecken. An einem Tisch auf der Terrasse füllt eine Frau einen Anamnesebogen aus. Patricia Hänel, eine Mitgründerin des Zentrums, das auch Gesundheitskollektiv, kurz Geko, heißt, ist soeben zur Tür hereingekommen.
Ein Café als Eingang zur Arztpraxis? Es soll mehr sein als das. Das Geko ist ein multiprofessionelles Gesundheitszentrum, das heißt, hier arbeiten Ärztinnen und Ärzte, Gesundheitsberater, Therapeutinnen und Sozialarbeiter unter einem Dach. Oder, wie es Patricia Hänel ausdrückt: Hier gibt es keine falschen Türen. Finanziert wird das ganze über verschiedene Träger und Stiftungen, die Arztpraxen – eine allgemeinmedizinische und eine für Kinder – rechnen mit den Kassen ab. Mit diesem Konzept hat das Geko Neukölln jetzt den ersten Preis beim Berliner Gesundheitspreis 2023 der AOK und der Ärztekammer Berlin erhalten. Das Modell könne als Blaupause für den Aufbau weiterer Zentren dienen kann, heißt es in der Begründung des Preises.
Zwölf weitere Gesundheitszentren für Berlin?
Von dem Konzept war der rot-rot-grüne Senat so überzeugt, dass er am liebsten zwölf weitere solcher Zentren einrichten wollte. Dazu wurde der Fördertopf „Landesprogramm integrierte Gesundheit“ eingerichtet, für den auch 2023 1,2 Millionen Euro veranschlagt sind. Damit sollen in diesem Jahr noch drei weitere integrative Gesundheitsangebote in Spandau, Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf finanziert werden.
Nach dem Vorbild des Neuköllner Geko soll in Spandau mit den Mitteln aus dem Landesprogramm ab Juli die Präventionsambulanz des Netzwerk Staaken im MVZ Heerstraße Nord weiterentwickelt werden. Sie ist bereits seit 2019 aktiv und bot bisher eine „abgespeckten Variante“ des integrativen Ansatzes, wie es aus dem Bezirksamt Spandau heißt.
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Marzahn-Hellersdorf arbeitet seit 1. Juni daran, mit den Senatsmitteln ein dem Geko Neukölln ähnliches Gesundheitsangebot Hellersdorf Nord, am Marktplatzcenter und dem Alice-Salomon-Platz aufzubauen. Geplant ist laut Bezirksamt auch ein hoher Anteil mobiler Arbeit.
Lichtenberg hat sich, anders als Neukölln, für einen dezentralen Ansatz entschieden. Hier wird die Sozialberatung innerhalb der Praxis Malinowski am Prerower Platz ausgebaut und ein neuer Praxistandort mit integrierter Beratung soll am 1. Juli im „Storchenhof“ in der Konrad-Wolf-Straße eröffnen. Träger des aus dem Landesprogramm finanzierten Angebots soll der Verein soziale Gesundheit e. V. sein. Auch dieses Projekt wurde beim Berliner Gesundheitspreis 2023 ausgezeichnet und erhielt den „Sonderpreis“.
Lebensverhältnisse, die krank machen
Der integrative Ansatz soll den Zugang zur Gesundheitsversorgung einfacher machen, insbesondere für Menschen, die mit dem hiesigen System nicht vertraut sind. Darüber hinaus ist es die Überzeugung Hänels und ihrer 35 Kollegen und Kolleginnen beim Geko Neukölln, dass eine Krankheit nicht isoliert betrachtet werden kann. Es seien oft die Lebensverhältnisse, die krank machen. Tatsächlich zeigen die Daten der Krankenkassen, dass arme Menschen häufiger unter gesundheitlichen Problemen leiden.
Dass das Geko in Neukölln auch ein politischer Ort ist, wird bei einem Blick auf die ausliegenden Flyer und Plakate klar. Eine Gesprächsgruppe will sich zur „psychischen Belastung im Kapitalismus“ austauschen und der „Stammtisch für Schwarze Menschen in Berlin-Neukölln“ findet im Café Praxis statt. „Wir sprechen auch auf Veranstaltungen, sitzen auf Panels und vernetzen uns mit anderen Organisationen im Kiez“, erklärt Hänel die politische Arbeit des Kollektivs.
Auch intern: geringe Lohnunterschiede, gemeinschaftliche Entscheidungen
In seiner jetzigen Größe ist das Geko nicht mehr komplett kollektiv organisiert. Dennoch werde versucht, Entscheidungen möglichst gemeinschaftlich zu treffen. Auch die Lohnunterschiede zwischen allen Mitarbeitenden von ungelernten Kräften bis zum medizinischen Personal werden bewusst kleingehalten.
Im Geko haben die Ärzte 45 Minuten Zeit beim Ersttermin und können eine ausführliche Sozialanamnese machen. Kommt eine Patientin mit stressbedingten Beschwerden und wird klar, dass sie aktuell keine Wohnung findet, wird sie an die Sozialberatung weitergeleitet – eine Tür weiter. Und sie kann Menschen in der gleichen Lage kennenlernen, sich vernetzen und selbst helfen.
Orientierung im deutschen Gesundheitssystem
Gut vernetzt ist auch Fatma Adigüzel, die im „Café Praxis“ arbeitet. Sie war jahrelang als Stadtteilmutter in Neukölln aktiv, ihre Kinder besuchen Kitas und Grundschulen im Rollbergkiez und sie organisiert Frauen-Frühstücke. Adigüzel kann Kontakte herstellen und denen Orientierung geben, die Probleme haben, das deutsche Gesundheitssystem zu „navigieren“, wie man im Geko sagt. Die Angestellten des Cafés sind über ihre Gastronomie-Kompetenz hinaus immer auch „Erfahrungsexpertinnen und -experten“ und können damit Gäste und Patienten unterstützen, wie die Leiterin des Cafés Yvonne Kiefel erklärt.
Adigüzels Stelle wird wie die der Sozialarbeitenden und therapeutischen Beraterinnen und Berater durch Förderungen von Stiftungen, dem Bezirk und dem Senat finanziert. Die Mittel des Senats sind jedoch nur noch für 2023 gesichert. Ob die Förderung darüber hinaus weitergehe, hänge davon ab, ob die Finanzierung im nächsten Doppelhaushalt erneut veranschlagt werde. Außerdem könnte eine Finanzierung über die Kassen im Rahmen der auf Bundesebene geplanten „Gesundheitskiosken“ möglich sein. Es bleibt also noch ungewiss.
CDU und Linke für weitere Förderung des Geko Neukölln
Auf Morgenpost-Anfrage äußerte sich der gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus Christian Zander positiv zum Neuköllner Modellprojekt: „Die CDU möchte das Geko gerne erhalten, da es sich um eine fest und gut verankerte Einrichtung in Neukölln handelt.“ Im Koalitionsvertrag mit der SPD wird das Landesprogramm integrative Gesundheitszentren nicht explizit genannt, sondern nur das Landesprogramm „Kombi-Praxis mit Sozialberatung“.
Daher fürchteten manche bereits die Einstellung der Mittel. So etwa Tobias Schulze, für die Linke im Abgeordnetenhaus und Sprecher für Gesundheitspolitik: „Der Senat scheint hier keine Priorität zu sehen.“ Er habe einst mit daran gearbeitet, das Konzept der integrativen Gesundheitszentren im Haushalt zu verankern. „Wir brauchen mehr kollektive Strukturen im Gesundheitswesen, die nicht nur betriebswirtschaftliche Aspekte miteinbeziehen“, so der Linken-Politiker.