Enorme Teilnehmer-Zahl

Sternfahrt in Berlin: Mit Gejohle auf die Avus

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Nina Hermann

Die Sternfahrt war ein großer Erfolg. Etwa 50.000 Radfahrer und Radfahrerinnen haben mitgemacht. So haben Teilnehmer den Tag erlebt.

Berlin. Piet hat fest vor durchzuziehen, es allein zu schaffen und nicht in das Lastenrad zu steigen, das seine Mutter zur Sicherheit mitgenommen hat. Er ist vier Jahre alt, hat gestern noch ein neues Fahrrad (ohne Stützräder!) von den Eltern geschenkt bekommen und ist mehr als bereit für die große Sternfahrt, zu der der Fahrradclub ADFC unter dem Motto „Mehr Recht fürs Rad – Viva la Radvolution!“ auch in diesem Jahr wieder aufgerufen hatte. Piet gehört zu den rund 100 Teilnehmern, die am Sonntagvormittag neben dem Eingang zum U-Bahnhof Neu-Westend auf die Fahrradtross warten, der am Morgen in Frohnau startete.

„Die Fahrradwege müssen besser ausgebaut werden, auch Kinder müssen sicher mit dem Rad unterwegs sein können“, sagt Piets Mutter Stefanie Franke-Mirrek. „Bei uns in Schmargendorf ist es nicht ganz so gefährlich, aber würden wir etwa am Kaiserdamm wohnen, hätte ich Angst um mein Kind.“ Es ist kurz nach 11 Uhr, nebenan steht Eberhard Brodhage, Vorsitzender des ADFC Berlin, und trackt über sein Smartphone den derzeitigen Standort der erwarteten Radfahrer. „Die müssten in drei Minuten hier sein.“ Damit wären sie auf die Minute pünktlich.

„Es dauert Jahre, bis in Berlin Radwege eingerichtet werden“

Viele Tausend Radfahrer sind zu diesem Zeitpunkt bereits im ganzen Stadtgebiet auf insgesamt 20 Strecken unterwegs, alle mit dem gleichen Ziel: der Große Stern im Tiergarten. Aus Leipzig fuhr eine Gruppe bereits kurz nach Mitternacht los, andere Radliebhaber starteten in Frankfurt (Oder) in den frühen Morgenstunden. Es ist eine bundesweite Aktion für eine Verkehrswende, Eberhard Brodhage hält die Verhältnisse in der Hauptstadt aber für besonders verbesserungswürdig: „Es dauert Jahre, bis in Berlin Radwege eingerichtet oder Tempo 30-Zonen umgesetzt werden“, so der Vorsitzender des ADFC Berlin. „Der Grund sind aufwendige und komplizierte Prüfverfahren, die durch das Straßenverkehrsgesetz vorgegeben werden. Bisher stehen da nur zwei Ziele: dass der Kfz-Verkehr fließen und sicher sein muss.“

Und dann, exakt nach Plan, um fünf Minuten nach 11 Uhr ist es dann tatsächlich soweit, hunderte Radfahrer treffen mit viel Gebimmel und guter Laune ein, einige haben mehr oder weniger laut aufgedrehte Musikboxen dabei, Partystimmung liegt in der Luft. Vorbei am Olympiastadion geht es zur Havelchaussee, wo die Teilnehmer zweier weiterer Routen dazustoßen, die in Nauen und Heiligensee ihren Startpunkt hatten. 2500 Radfahrer fahren nun laut Angabe der Polizei über die Havelchaussee in Richtung Wannsee, um von dort über die Avus (A115) den Weg zurück in die Stadt zu nehmen.

Auf der hügeligen Havelchaussee ist leises oder lautes Fluchen zu hören

Unter den Grunewaldbäumen ist es schön schattig und überhaupt sehr schön, rechter Hand glitzert die Havel. Aber es ist auch sehr hügelig, hier und dort ist leises oder lautes Fluchen zu vernehmen, doch Piet hält tapfer durch, „cool“ sei diese Fahrradtour, sagt er. Bei den Steigungen schiebt der Vater ihn an. Mutter Stefanie Franke-Mirrek zeigt auf den gepflasterten Radweg neben der Straße: „Solche Radwege sind ein Problem, da wird das Lastenfahrrad total durchgerüttelt. Solche oder noch schlimmere Radwege gibt es viele in Berlin, die müssten alle asphaltiert sein.“

Dann gibt es plötzlich einen Stau, dort wo Autofahrer den Warnblinker setzen, heben die Radfahrenden nun einen Arm in die Höhe, um den Nachfahrenden zu signalisieren, dass sie abbremsen sollen. Zeit für ein Gespräch mit Johannes aus Tegel. Der ist 74 Jahre alt, sieht auch nach knapp zwei Stunden Fahrt kein bisschen erschöpft aus. „Ich bin aus Spaß an der Sache dabei und weil sich etwas ändern muss. Bei uns in Reinickendorf wird von der Politik nicht gerade viel für Radfahrer getan.“

Dann geht es weiter, den größten Hügel hoch und wieder runter, den einige wenige männliche Radfahrer mit Karacho runterrasen, obwohl viele Kinder dabei sind, und ein Ordner des veranstaltenden Fahrradclubs ADFC immer wieder ruft: „Bitte langsam fahren, bitte langsam.“ Und tatsächlich kam es genau hier bereits zu einem Unfall, am Straßenrand sitzt ein junger Mann mit blutendem Knie, zwei Polizisten sind bereits bei ihm, der Rettungswagen in Anfahrt. „Auch der ist viel zu schnell gefahren“, sagt ein Ordner.

Mit „Smells Like Teen Spirit“ geht es auf die Avus

Kurz vor dem S-Bahnhof Wannsee kommt es wieder zum Stau. Dieses Mal zieht er sich hin, bis zur Auffahrt auf die Avus geht es anschließend über eine halbe Stunde nur im Schritttempo voran, dem Höhepunkt entgegen. Ein älterer Herr dreht vorher seine Musikbox nochmals lauter und dann geht es mit „Smells Like Teen Spirit“ von der Band Nirwana auf die Avus. Rundherum werden begeistert die Hände im Takt nach oben gerissen, andere Teilnehmer biegen mit Gejohle und Freudenschreien an der Auffahrt Wannsee auf die Avus ein.

Andere reagieren eher andächtig auf die Masse der Radfahrenden. „Gigantisch“ oder „Wahnsinn“ ist zu hören. Viele Teilnehmer können sich nun an den raren Schattenplätzen an der Avus eine Pause, andere tanzen und auch eine Seifenblasenpistole ist im Einsatz, die begeistert aufgenommen wird. Nach rund acht Kilometern geht es dann vom Dreieck Funkturm über die Kantstraße, die Bismarckstraße und den 17. Juni zum Großen Stern. Hier wieder viel Gebimmel, viele Radfahrende umkreisen zum Ende die Goldelse mehrfach. Insgesamt war die diesjährige Sternfahrt ein riesiger Erfolg. Etwa 50 000 Radfahrer waren dabei. Das teilten der Fahrradclub ADFC und die Polizei zum Abschluss übereinstimmend mit.