Berlin. Mit einem 360-Grad-Rundgang lässt sich in die Geschichte des Anhalter Bahnhofs eintauchen – auch in die dunklen Ecken des Ortes.

Frank Zwintzscher steht mit seinem Tablet im Elise-Tilse-Park, dort wo früher der Anhalter Bahnhof war. Der Asphalt des ehemaligen Bahnsteigs klafft an manchen Stellen auseinander, längst hat sich die Pflanzenwelt den Ort zurückgeholt. Auf dem Bildschirm von Zwintzschers Gerät, das er in Richtung Plattform hält, stellt sich die Realität jedoch anders dar: Der Bahnsteig ist intakt, statt Bäumen sind bloß Schienen zu erkennen und im Hintergrund eine Brücke zu sehen.

Am Donnerstag stellten das Deutsche Technikmuseum und die TU Darmstadt ihr Projekt „Anhalter Bahnhof Revisited“ vor – eine Applikation, mit der sich die einstmalige Ikone Berlins in einem 360-Grad-Rundgang auf dem Smartphone oder Tablet – wie auch vom heimischen Computer – aus wiederentdecken lässt. Zu diesem Zweck sind auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände hölzerne Stehlen aufgebaut, auf denen QR-Codes zum Scannen einladen.

Akribische Kleinstarbeit für eine realitätsgetreue Abbildung des Anhalter Bahnhofs

„Das Gelände ist nach bestem Wissen und Gewissen rekonstruiert“, erklärte Zwintzscher vom Deutschen Technikmuseum bei der Vorstellung des Projektes. Er ist einer der Köpfe dahinter und für die historische Einordnung zuständig. Laut ihm ist ein Jahr Arbeit in die Entwicklung der Applikation geflossen, unter Beteiligung von rund 20 Mitarbeitenden, darunter auch Eisenbahnhistoriker, die beispielsweise die Loknummern beigetragen haben.

Akribische Kleinstarbeit, in der man sich leicht verlieren konnte: „Frank hat mich einmal nachts um 5 Uhr angerufen, weil er eine Nummer am Zug tauschen wollte“, erinnerte sich Marc Grellert von der TU Darmstadt, der für die Rekonstruktion zuständig war. „Wir haben 30 Jahre Erfahrung in dem Bereich, doch einen Bahnhof haben wir noch nie rekonstruiert. Das hat nur durch sehr gute Vorarbeit geklappt.“

Das Ergebnis ist eine realitätsgetreue Abbildung des damaligen Anhalter Bahnhofs, der 1880 eröffnet und knapp 80 Jahre später abgetragen wurde, dargestellt in verschiedenen Epochen. Bei der Präsentation werden unterschiedliche Lichtverhältnisse eingefangen und sogar Geräusche integriert, wie das Pfeifen der Loks oder der Trubel in der Bahnhofshalle. An manchen Stellen werden auch direkte Gegenüberstellungen von Gegenwart und Vergangenheit angezeigt.

Neben der Architektur werden persönliche Geschichten erzählt – auch die von Deportationen

Neben der architektonischen Ebene wird die Geschichte des Anhalter Bahnhofs gleichzeitig auf eine persönliche Weise in künstlerischer Aufbereitung erzählt. So ist Erich Kästner als comichafte Figur zu sehen, wie er 1927 am Bahnhof zu Silvester ankommt und seiner Mutter nach Dresden schreibt.

Erich Kästner, als er am Anhalter Bahnhof ankommt. Dieses Bild lässt sich unter anderem auf dem Smartphone sehen, sowohl auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs wie auch von zu Hause aus.
Erich Kästner, als er am Anhalter Bahnhof ankommt. Dieses Bild lässt sich unter anderem auf dem Smartphone sehen, sowohl auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs wie auch von zu Hause aus. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Durch das Storytelling sollen die verschiedenen Bedeutungen des Ortes im Laufe der Zeit zum Ausdruck kommen. Beispielsweise der Anhalter Bahnhof als Sehnsuchtsort: „In den 1920er Jahren war er Berlins Tor zum Süden“, so Zwintzscher vom Deutschen Technikmuseum. Neben Süddeutschland sei auch Italien Ziel der reiselustigen Bevölkerung zu Zeiten der Weimarer Republik gewesen.

So wie sich die politische Stimmung im Land veränderte, kam auch dem Anhalter Bahnhof irgendwann eine andere Bedeutung zu. In den 1930er Jahren, unter nationalsozialistischer Herrschaft, wurde aus dem ehemaligen Sehnsuchtsort eine Stätte des Schreckens: Tausende Jüdinnen und Juden wurden vom Anhalter Bahnhof ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Auch ihre Geschichten haben Einzug gefunden in die Erzählungen, die über die Applikation dargeboten werden.

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Mit dem Projekt soll sowohl dieses dunkle Kapitel wie auch die prunkvolle Kaiser-Zeit beleuchtet und vorbeiziehenden Menschen ins Gedächtnis gerufen werden. Dass das klappt, lasse sich laut Zwintzscher bereits an einer Holzstehle im Elise-Tilse-Park erkennen: „Schon jetzt gab es hier 1000 Klicks auf den Barcode.“ Dabei habe das Projekt gerade erst begonnen.