Berlin. Einen kurzen Moment muss Katarina Niewiedzial überlegen, wo sie gern spazieren gehen möchte. Lieber eine Runde im ruhigen, beschaulichen Pankow, wo die Berliner Integrationsbeauftragte bereits seit 14 Jahren mit ihrer Familie lebt? Oder einen Spaziergang entlang der trubeligen Potsdamer Straße, die Schöneberg mit Tiergarten verbindet und an der ihre Behörde liegt? Katarina Niewiedzial hat sich für letzteres entschieden. „Hier hat in Berlin für mich alles angefangen“, sagt sie, und hier verbringe ich auch heute noch viele Stunden am Tag.“ Unser Treffpunkt ist im Foyer vor ihrem Büro.
Niewiedzial legt sich einen roten Schal um den Hals und nimmt ihren Mantel. Hinter ihr erzählt eine Stellwand die mehr als 40-jährige Geschichte des Amts für Integration und Migration. 1981 nahm Barbara John hier ihre Arbeit auf, sie hieß noch „Ausländerbeauftragte“. Es folgten 2003 Günter Piening, dann Monika Lüke und Andreas Germershausen. Seit dem 1. Mai 2019 ist nun die 44-jährige Niewiedzial Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration – so die vollständige Bezeichnung – und damit Hausherrin in dem etwas gesichtslosen, funktionalen 1960er-Jahre Bau an der Potsdamer Str. 65.
Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Migrations- und Integrationspolitik des Senats mitzugestalten und mit anderen Verwaltungen im Land Berlin abzustimmen. Es geht um Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen, um die interkulturelle Öffnung der Verwaltung, die Beratung für alle neu Zugewanderten und Menschenrechte. Um den Zugewanderten den Einstieg in Berlin zu erleichtern, müsse sich die Verwaltung bewegen, anders gehe es nicht. „Wir brauchen mehr digitale Angebote, Formulare in allen Sprachen und viel weniger Bürokratie“, sagt Niewiedzial. Das komme im Endeffekt dann allen Berlinern zugute. „Damit Integration gelingt, müssen alle möglichen Politikfelder beteiligt und zusammengebracht werden“, sagt sie. „Mit anderen Worten: Ich muss vor allem ständig kommunizieren.“
„Ich liebe diese Mischung hier, man ist sofort mittendrin“
Wenn Katarina Niewiedzial mal einen Moment nicht reden möchte, dann macht sie in ihrer Mittagspause gern einen kleinen Spaziergang, dieses Mal dürfen wir sie begleiten. „Dabei bekomme ich den Kopf frei“, sagt sie, drückt die Glastür auf und tritt aus dem Bürogebäude auf die belebte Potsdamer Straße. Es ist laut. Der Verkehr rauscht vorüber, auf dem Bürgersteig sind viele Menschen unterwegs. Angestellte auf dem Weg in die Mittagspause, ältere Menschen mit Einkaufstrolleys und Familien mit Kindern. „Die Potsdamer Straße ist für mich eine der ehrlichsten Straßen Berlins“, sagt Niewiedzial, „ich liebe diese Mischung hier, man ist sofort mittendrin.“ Restaurants neben Sexshops, Wohnungen, ein türkischer Supermarkt an der Ecke, ein paar Meter weiter eine neue Galerie und eine Filiale von Carglass. „Das gibt es so sonst kaum noch irgendwo“, sagt sie.
Niewiedzial wendet sich nach rechts und geht in Richtung Neue Nationalgalerie. Nach etwa hundert Metern erreicht sie das neue Willkommenszentrum, das zu ihrer Behörde gehört. Es ist die Beratungsstelle für Eingewanderte und Neuankommende, Menschen ohne deutschen Pass und Menschen mit Migrationsgeschichte sowie für ihre Angehörigen. „Wir beraten sie hier kostenlos und mehrsprachig zu den Themen Ankommen, Einreise und Aufenthalt, soziale Leistungen, Arbeit, Ausbildung und noch mehr“, sagt sie. „Damit können wir vielen helfen.“
Niewiedzial kann sich gut in die Menschen hineinversetzen, die – aus welchen Gründen auch immer – ihre Heimat verlassen und nach Deutschland kommen. Sie selbst kam als Zwölfjährige mit ihrer Familie aus Polen nach Bremerhaven. „Ich konnte kein Wort Deutsch und wurde erstmal in eine Willkommensklasse aufgenommen“, sagt sie. Gelernt hat sie die Sprache dort aber nicht. Erst als sie nach einem halben Jahr in eine Regelklasse wechseln durfte und Förderunterricht bekam, begann sie zu verstehen und zu sprechen. „Diese Zeit möchte ich nicht noch einmal erleben“, sagt sie, „ich habe mich fremd gefühlt, konnte nicht kommunizieren und mein wahres Ich zeigen. Ein Gefühl der Sprachlosigkeit.“
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Viele Mitschüler und Lehrer hätten damals gedacht, Niewiedzial sei eine stille Maus, die immer nur in der letzten Bank sitze. „Aber als ich dann endlich Deutsch konnte und ein bisschen aus mir heraus kam, haben sie dann ganz überrascht festgestellt, dass ich ja eigentlich ganz lustig bin“, erzählt sie. Sie schafft ihren Realschulabschluss, und weil sie ihre Muttersprache Polnisch als zweite Fremdsprache anerkennen lassen kann, darf sie auf ein Oberstufenzentrum wechseln und Abitur machen. „Wenn das nicht möglich gewesen wäre, wäre mein gesamter Lebensweg anders verlaufen“, sagt Niewiedzial.
In der Sonne an der Neuen Nationalgalerie bleibt Niewiedzial einen Moment stehen. Sie mag diesen Ort, den Blick auf Berlin, die Besucher, die Baustellen. „Hier ist Bewegung“, sagt sie. Während sie die Straße überquert und in den kleinen Park am Schöneberger Ufer einbiegt, erzählt sie, wie es nach dem Abitur weiterging. „Ich begann an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg Politik- und Wirtschaftswissenschaften zu studieren“, sagt sie. „Danach ging es für ein Jahr nach Irland und von dort an die FU Berlin. Da wollte ich unbedingt hin.“ Sie findet ein Zimmer in der Pohlstraße, eine kleine Seitenstraße der Potsdamer Straße. „Ich habe in einer 7er WG gewohnt, in einer riesigen Berliner Altbauwohnung.“, sagt sie. „alles sehr interessante Leute, darunter auch viele Studierende aus unterschiedlichen Ländern. Abends wurde am Küchentisch über alles mögliche heftig diskutiert.“
Niewiedzial bewirbt sich um ein Praktikum bei Barbara John, der damaligen Ausländerbeauftragten, und bekommt den Job in der Potsdamer Straße. „Ich hatte keine Ahnung, was mich da erwartet, aber diese Institution weckte schnell mein Interesse “, sagt sie, „die Themen haben mich fasziniert und es hat mir riesigen Spaß gemacht.“ Aber vor allem hat sie auch etwas über sich selbst gelernt: Sie hat auch Migrationshintergrund. „Das war mir vorher gar nicht so klar“, sagt sie, „irgendwie war das bei mir vorher nie ein Thema.“ Niewiedzial ist so begeistert von der Arbeit, dass sie nach dem Praktikum als studentische Mitarbeiterin bleibt, nach dem Studium auch noch einige Jahre als Projektkoordinatorin. „Dass ich den Laden irgendwann mal leiten würde, habe ich mir natürlich damals noch nicht vorstellen können“, sagt sie und lacht.
Es fehlten Unterkünfte, Jobs und Betreuungsplätze
Nach den ersten Erfahrungen in der Verwaltung schlägt sie einen anderen Weg ein. Sie wird Geschäftsführerin und Projektleiterin des Think Tanks „Das Progressive Zentrum“, einer wissenschaftlichen Politikberatungsagentur. „Ich habe diese Organisation aufgebaut, es war eine spannende Zeit, aber als ich mein zweites Kind bekam, musste ich das Arbeitspensum deutlich reduzieren“, sagt Niewiedzial, „und ich wollte wieder in die Politikumsetzung.“ Sie wechselt wieder in den öffentlichen Dienst, wird Integrationsbeauftragte des Bezirksamtes Pankow. Doch von einem ruhigen Job für eine Mutter mit kleinen Kindern ist diese Aufgabe weit entfernt. „Mit der großen Fluchtbewegung aus Syrien gab es in kürzester Zeit plötzlich sehr viele Menschen in Berlin, die Hilfe brauchten“, sagt Niewiedzial. Sie organisiert Unterkünfte in Turnhallen, Deutschkurse und Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder. „Aber vor allem musste ich sehr viel mit den Menschen in Pankow sprechen, denn in solchen Krisensituationen brauchen die Anwohner Informationen und müssen mitgenommen werden“, sagt sie, „ohne ihr Verständnis und ihr Engagement hätten wir die Jahre 2015 und 2016 nicht so gut bewältigt.“
Niewiedzial hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen in Berlin Zuwanderern gegenüber eigentlich erst einmal sehr offen sind. Allerdings sei Migration für eine Gesellschaft durchaus auch mit temporärem Stress verbunden. Es fehlten Unterkünfte, Betreuungsplätze und Jobs. „Ein gutes Krisenmanagement ist deshalb unheimlich wichtig“, sagt Niewiedzial. Ihr habe der Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine gezeigt, dass es in der Migrationspolitik Zeit für einen Paradigmenwechsel sei. „Wir sehen, dass der erleichterte Zugang nach Deutschland für ukrainische Geflüchtete sofortige gesellschaftliche Teilhabe erlaubt“, sagt sie. Sie konnten ab dem ersten Tag arbeiten und in privaten Wohnungen leben. „Dies muss in Zukunft für alle Neuankommenden die Regel sein, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können“, sagt Niewiedzial. „Deutschland ist ein Einwanderungsland, wir brauchen die Menschen hier. Aber wir müssen uns von dem Hochmut verabschieden, dass bei uns alles besser ist. In anderen Ländern herrscht auch hohe Qualität etwa im Bildungssystem und Ausbildungssystem, davon können wir doch profitieren.“
Allein aus der Ukraine seien in den letzten zwölf Monaten mehr als 60.000 Menschen nach Berlin gekommen. Etwa ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. „Ich erkennen an, dass für rund 7000 Kinder und Jugendliche bereits Schulplätze geschaffen worden sind“, sagt Niewiedzial, „aber es gibt auch immer noch mindestens 2000 Kinder, die noch nicht zur Schule gehen. Das geht einfach nicht.“Man müsse da dringend umdenken. Die Schulgebäude müssten effektiver genutzt werden, es könne zum Beispiel auch Unterrichtsangebote am Nachmittag und am Wochenende geben, um mehr Kinder beschulen zu können, auch rotierende Ferien innerhalb Berlins könne sie sich vorstellen. Außerdem müssten Lehrkräfte mit ausländischen Abschlüssen schneller den Weg in den Schuldienst finden. „Und auch Lehrerinnen mit Kopftuch müssen unterrichten dürfen“, sagt Niewiedzial. Das Neutralitätsgesetz, das das bis jetzt verbietet, „ist kontraproduktiv und gehört abgeschafft“, sagt sie. „Es diskriminiert muslimische, gut ausgebildete Frauen.“ Auch das Bundesverfassungsgericht urteilte Anfang Februar, dass ein pauschales Verbot nicht zulässig sei. „Dieses Themas muss die neue Landesregierung sich sofort annehmen“, sagt Niewiedzial.
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Auch das Thema Schulbau müsse ganz oben auf die Agenda. „Es sieht im Moment nicht so aus, dass Berlin im kommenden Jahrzehnt die notwendigen 70 bis 80 neuen Schulstandorte fertigstellen wird“, sagt sie, auch hier brauche man schnell ein umsetzbares Konzept. Denn wie gravierend der Schulplatzmangel ist, hat Niewiedzial im vergangenen Jahr selbst erlebt, als für ihre Tochter der Wechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule anstand. „Trotz guter Noten hat sie in Pankow keinen Schulplatz bekommen“, sagt Niewiedzial. Nun fährt sie jeden Tag nach Reinickendorf. „Erst fanden wir das natürlich nicht so gut“, sagt Niewiedzial, „aber mittlerweile sind wir alle ganz zufrieden.“
Niewiedzial biegt aus dem Park am Gleisdreieck in die Kurfürstenstraße ab. Nur ein paar Meter von hier entfernt hat sie ihre ersten Jahre in Berlin verbracht. „Diese Offenheit hier hat mich sehr geprägt“, sagt sie. Sie wünscht sich, dass ihre Tochter das auch so erlebt. In Pankow sei die Zusammensetzung an den Schulen doch recht homogen, in Reinickendorf könne sie da ganz neue Erfahrungen machen. „Meine Tochter lernt jetzt wie vielfältig Berlin ist und dass es nicht selbstverständlich ist, ein eigenes Zimmer zu haben oder Unterstützung bei den Hausaufgaben zu bekommen“, sagt Niewiedzial. „In der Schule lernt sie Solidarität. Das finde ich sehr wichtig.“